Vom Leben im Ausland – der Teil, über den absolut niemand spricht
Meine Heimreise nach Deutschland liegt fast 6 Wochen zurück und ich bin wieder in Guatemala. Eigentlich wollte ich heute einen Blogbeitrag über meine Kajaktour auf dem Rio Dulce verfassen. Als ich schließlich zu tippen begann, merkte ich jedoch, dass mir heute ein ganz anderes Thema auf der Seele brennt…
Vom Leben im Ausland – der Teil, über den niemand spricht
Egal wann, egal wo und egal wem ich davon erzähle, dass ich ein Leben im Ausland führe, die Reaktion darauf ist meistens dieselbe: Die Augen meines Gegenübers weiten sich, der Ton der Stimme verändert sich und ich werde von jetzt auf gleich mit Fragen und Ausrufen bombardiert: Echt?! Neeiiin! Woooow! Das muss ja toll sein!
Genauso wie ich aufgehört habe die Frage Na, hast du dich im Ausland schon eingelebt? zu zählen, habe ich aufgehört, diese Art von Zusammentreffen zu zählen.
Denn all die Menschen, die mir diese Fragen stellen oder die mir mit diesen Ausrufen begegnen, haben eines gemeinsam: Sie haben selbst nie im Ausland gelebt.
Verstehe mich nicht falsch, wenn du diesen Artikel liest und noch nie im Ausland gelebt hast, sehe ich das keinesfalls als Defizit an oder als etwas, das man unbedingt gemacht haben muss, um wirklich gelebt zu haben. Mitnichten! Für mich gibt es kaum eine schönere Vorstellung als eine dich liebende Familie zu haben und mit dieser in absoluter Harmonie zusammen in Deutschland, in meinem Geburtsland, zu leben.
Aber für all diese Menschen scheint ein Leben im Ausland eine romantische Vorstellung zu sein. Ein Leben in einem anderen Land! Ein Leben in einem far far away-Land. Ein Leben auf einem anderen Kontinent. Der Himmel auf Erden. Das absolute Paradies. Urlaub das ganze Jahr über.
Was all diese Menschen nicht realisieren: Das ist es nicht! Ganz und gar nicht!
Ein Leben im Ausland ist auch nicht anders als ein Leben in Deutschland
Abgesehen von den unterschiedlichen Gepflogenheiten in einem anderen Land, anderen Nahrungsmitteln, einer anderen Sprache, einer anderen Kultur, zuweilen vielleicht sogar einer anderen Religion und ab und an anstelle eines Feueralarms an der Schule eben ein Erdbebenalarm sind die Dinge bei einem Leben im Ausland prinzipiell genauso wie bei einem Leben in Deutschland:
Du wachst morgens auf, du gehst zur Arbeit, erledigst deine Einkäufe, putzt deine Wohnung (machst das aufgrund von erhöhter Vulkanaktivität mindestens 3x pro Woche!) und gehst ins Bett. Der einzige Unterschied bei einem Leben im Ausland besteht darin, dass du dies eben nicht in Deutschland tust, sondern in dem Land, in welchem du wohnst.
Wenn du dich einmal an das Leben im Ausland gewöhnt und deine Routine gefunden hast, weißt, wo du alles bekommst, was du bekommst und vor allem was du nicht bekommst, dich einigermaßen in der neuen Sprache ausdrücken kannst, die du vielleicht noch zu Beginn nicht einmal in Ansätzen gesprochen hast, ist es unglaublich schwierig, sich wieder zurechtzufinden, wenn du nach Hause zurückkehrst.
Leben im Ausland – das wahre Problem
Dennoch, mit einem Problem wirst du dich immer konfrontiert sehen: Nirgendwo fühlt es sich mehr nach Zuhause an!
Die vergangenen sechs Jahre bin ich wahnsinnig viel durch die Welt gereist. Wann immer Ferien waren, ich hatte einen Flug gebucht. In den Auslandsschuldienst zu gehen war nur eine Frage der Zeit. Die logische Konsequenz aus den vergangenen Reisejahren und anderen Gründen.
Und schließlich kam ich für einige Wochen zurück nach Deutschland.
Das Leben in Deutschland erschien mir aber irgendwie komisch. Ich hatte Probleme, in Deutschland zu leben. Kleine Dinge, wie geschlossene Geschäfte an einem Sonntag, erschienen mir seltsam. Die Art und Weise, wie man hier mit Fremden kommunizierte, miteinander im Straßenverkehr umging, machten mir Schwierigkeiten.
Die Geschwindigkeit war weitaus langsamer als die, die ich gewohnt war. Ich hatte immer das Gefühl, ich war schneller als jeder sonst.
Und die Ironie dabei war, dass ich mich monatelang wahnsinnig danach gesehnt hatte, nach Deutschland zurück zu kehren.
Ein Ort, der mir vertraut war.
Ein Ort, an welchem ich mein soziales Umfeld hatte.
Ein Ort, an welchem ich mich schon immer wohl gefühlt hatte.
Ein Ort der Zuflucht.
Ein Ort des Rückzugs.
Heimat.
Mein Leben in Deutschland würde einfacher sein, dachte ich. Mein Leben in Deutschland würde mir Energie geben, glaubte ich. Mein Leben in Deutschland würde Entspannung pur, hoffte ich. Und lag mit ausnahmslos allem völlig daneben.
Nach 12 Monaten in Guatemala fühle ich mich in Deutschland nicht mehr Zuhause. Alles ist mir durchaus vertraut, aber alles fühlt sich doch irgendwie fremd an. Die Menschen, die Straßen, die Geräusche, die Gerüche, das Klima.
Und auch mein Blick auf all die Dinge hat sich verändert. Mein Blick auf die Welt hat sich verändert. Ich habe mich verändert. Aber die Menschen, die Orte, das Land – all das hat sich kaum verändert.
Als mich meine ehemalige Chefin in Deutschland begrüßt und liebevoll in den Arm genommen hatte, blickte sie mich von oben bis unten an. Ein Wow, völlig unverändert!, entfuhr ihr. Augenscheinlich hatte sie Recht. Ich trage dieselbe Kleidung. Ich trage nach wie vor kein Makeup. Ich bevorzuge der Bequemlichkeit halber immer noch, meine Haare in einem Dutt zu tragen. Ich habe nur minimal an Gewicht zugelegt – und es zwischenzeitlich auch wieder mehr als runter. 🙂
Und doch: Ich habe mich völlig verändert.
Ich fühle mich wie eine Frau ohne Land. Eine Frau ohne Heimat. Eine Außenseiterin. Gast im eigenen Land – und übrigens jedem anderen auch.
Abgesehen von der Liebe meiner Familie und Freunde fehlt diesem Land Wärme. Die tatsächliche und die, die ich einmal spürte. Die Liebe, Wärme, Vertrautheit und (seelische) Verbundenheit, für die es sich in den vergangenen vier Reisejahren immer wieder gelohnt hatte, zurückzukehren…
L. B.
Februar 9, 2019 @ 1:55 pm
»Ich fühle mich wie eine Frau ohne Land. Eine Frau ohne Heimat.« Wie ein Schiff ohne Hafen?
Ich kenne diese Gefühle nur zu gut: In meinem Ausweis steht »Staatsangehörigkeit: Deutscher«. Und gleichzeitig weiß ich, dass diese Angabe schon immer falsch war — dort müsste vielmehr stehen: »staatenlos«.
Ein Schiff ohne Hafen kann auch Neugier sein, der Wunsch des Erlebenwollens, des Nichtstillstehens. Was macht uns glücklich? Eine Mischung aus alledem, was Du in Deinem Artikel erwähnst. Und doch werden wir immer einen Preis für dieses Glück zahlen.
Eine »Außenseiterin«? Ja, aber vor allem auch ein Mensch, der innerlich gewachsen ist und die engen Grenzen, die Menschen einander auferlegen, gesprengt hat. Das weitet Dein Herz, und darauf kommt es an. Spätestens dann, wenn diese Einsicht da ist, stellst Du fest, dass der Preis, den Du bezahlt hat, angemessen war. Es gibt nichts zu bereuen. Du würdest es wieder und wieder tun.
Daraus ergeben sich Freundschaften, die wertvoller sind als alles, was man für Geld bekommt. Freundschaften, die die Zeit überdauern. Freundschaften, die einen wirklich verändern und wachsen lassen. Freundschaften, die stärker sind als das stärkste Land dieser Welt, weil sie auf Liebe und Verständnis basieren.
Das ist das wahre Land, die wahre Heimat, der wahre Hafen.
Manu
Februar 9, 2019 @ 7:00 pm
Danke für deine Worte! Liebe Grüße in den Rhein-Neckar-Kreis. 🙂
Jürgen
Februar 10, 2019 @ 1:47 pm
Danke für deine ehrliche Schilderung des Lebens als Expat. Genauso ist es, das kann ich nach drei Jahren Südafrika voll und ganz bestätigen. Meine drei Jahre „abroad“ liegen zwar schon zehn Jahre zurück, aber auch ich habe mich hier in der so genannten Heimat nicht mehr eingefunden. Diese Verbissenheit, diese Perma-Nörgelei, diese Vollkasko-Mentalität, dieses Pendeln zwischen Autobahn-Straßenkampf und großem Fressen und diese ewige schlechte Laune angesichts eines Lebens im Überfluss, diese ständige Besserwisserei, Sarkasmus und Herzlosigkeit… die Liste ist unendlich… das ist nicht mehr mein Land, nicht mehr mein Leben. Ich bin entwurzelt seit Afrika, immer wieder bin ich dort, treibe durch die Straßen meiner Vergangenheit, bin dort wie hier ein Fremder. Mein Horizont hat sich verändert, meine deutsche Großkotzigkeit ist kleinlaut geworden, das hohe Ross hat mich abgeworfen. Meine Heimat ist umgezogen vom Gestern ins Heute, von einer Erinnerung in eine Reise. Ich bin zuhause auf meinem fliegenden Teppich mit unbekannter Destination. Glückauf.
Michela
Februar 11, 2019 @ 2:30 pm
Wow Jürgen! Deine Beschreibung trifft es perfekt. Auf den Punkt. Nicht mehr und nicht weniger. Danke.
Manu
Februar 11, 2019 @ 2:40 pm
Voll auf den Punkt gebracht! Die Metapher des fliegenden Teppichs finde ich besonders gut! Happy travels und Glückauf!
David
April 1, 2019 @ 7:27 pm
Aah naja, finde ich schwierig. Ich bin ein seit einigen Jahren plötzlich von Fernweh heimgesuchter Mensch, der viel herumgekommen ist und der durch zum Teil längere Aufenthalte im Ausland und heftige Kulturschocks ebenfalls eine Veränderung durchgemacht hat.
Ja, sofort fallen mir ähnliche Dinge ein: Straßenverkehr, deutscher Leistungsdruck um jeden Preis von Schule bis zur Rente, völlig irrsinniger Konsumterror, Massenverblödung durch Medien, Verkniffenheit, Rechthaberei etc. Stimmt wohl alles, aber so brutal würde ich mein Heimatland dennoch nicht abstrafen. Denn so herzlos ist Deutschland wohl nicht. Ich engagiere mich für soziale Projekte in Deutschland und erlebe hier sehr viel Herzlichkeit und die große Bereitschaft, zu helfen, überrascht mich immer wieder. Ich bin froh über unsere Solidargemeinschaft. Für Viele ist das sicherlich eher ein passives „Engagement“ (=Steuergelder), über das auch viel gemault wird. Dennoch funktioniert es und wer mal mit Herzrhythmusstörungen auf der Straße lag und nach fünf Minuten von Passanten, danach von liebevollen Sanitätern und Ärzten komplett-versorgt wurde, der weiß unsere Gesellschaft zu schätzen (in meinen Reisegebieten wäre ich bestimmt liegen gelassen und ausgeraubt worden – von der medizinischen Versorgung ganz zu schweigen).
Vielleicht sind wir nicht die glühenden Versprüher von Lebensfreude. Und der Wohlstand und die fehlenden lebensechten Aufgaben machen uns träge. Aber ich komme immer gerne zurück.
PS. Toller Blog!