Die Vorwerk-Offensive – eine Bahnfahrt durchs deutsche Bewusstsein
Ich reise viel – oft weit, manchmal spontan, selten ohne Erwartungen. Doch je öfter ich unterwegs bin, desto mehr merke ich: Du musst gar nicht ans andere Ende der Welt fahren, um ein Land zu verstehen. Manchmal reicht eine Bahnfahrt.
Meine Geschichte heute spielt in Deutschland. Genauer gesagt im ICE von Frankfurt nach Berlin. Kein exotisches Ziel, kein Abenteuer im klassischen Sinn – und trotzdem eine Reise, die alles hat, was das Reisen ausmacht: Begegnungen, Gerüche, kulturelle Eigenheiten und die leise Frage, warum wir Menschen eigentlich so sind wie wir sind.
Vielleicht ist das hier kein Reisebericht. Vielleicht ist es eher eine Studie. Vielleicht ist das auch alles einfach nur erfunden. Oder eine Beobachtung. Oder ein Liebesbrief an das Absurde…
Ich sitze im ICE von Frankfurt nach Berlin, zweite Klasse, Wagen 4. Der Zug hat 40 Minuten Verspätung und ist voll bis zum Anschlag – jeder Sitz belegt, jeder Gang blockiert, jedes Geräusch eine Zumutung. Wenn es einen Ort gibt, an dem sich die deutsche Seele entblättert wie ein schlecht gefalteter Fahrplan, dann hier.
Mir gegenüber sitzen Gerda und Karl. Die Namen sind – wie alle anderen auch – frei erfunden. Sie tragen Funktionskleidung in Farben, die in der Natur nicht vorkommen und haben Wanderstöcke dabei, obwohl Berlin bekanntlich keine Berge hat. Die Wanderstöcke liegen auf ihrem Schoß. Gerda und Karl behandeln sie wie heilige Insignien, Zeichen ihrer Überlegenheit über jene, die noch nicht das Konzept von „Frühstück um sechs, Aufbruch um sieben“ verinnerlicht haben.
Nach zwanzig Minuten packen sie die Stöcke weg und ihr Essen aus. Der Geruch kündigt sich an, bevor ich ihn sehe: Leberwurstbrot. Handkäse mit Musik. Ein olfaktorischer Faustschlag. Die Alufolie knistert wie eine Drohung und das Schwarzbrot könnte als Baustoff durchgehen. Sie schmatzen synchron. Ein choreografiertes Duett aus Speichel und Selbstzufriedenheit.
Hinter mir telefoniert eine Frau. Sie schreit in ihr Handy, als müsse sie Berlin warnen: „Alfred! Die Irene hat schon wieder den Kartoffelsalat ohne Mayo gemacht!“ Ich erfahre Dinge über Alfred, Irene und den Kartoffelsalat, die mich innerlich altern lassen.
Ein junger Typ in der Reihe neben mir scrollt durch TikTok. Sein Gesicht leuchtet blau – Heiligenschein der Sinnlosigkeit. Manchmal lacht er kurz auf, als hätte er sich selbst erschreckt. Dann wieder Stille. Ansonsten nur Daumenbewegungen.
Wir sind alle Teil desselben Experiments: Mensch in geschlossener Umgebung, Reizüberflutung inklusive.
Und dann – aus dem Nichts – tritt Heinz in Erscheinung. Ein Mann um die sechzig, Poloshirt in Pastellgrün, Brille mit Kordel, Haltung wie jemand, der schon mehrfach „Ich mach‘ das mal eben richtig“ gesagt hat. Er zieht einen Vorwerk-Staubsauger hinter sich her. Nicht irgendeinen. Einen legendären, urdeutschen, grün-weißen Koloss – halbes Jahrhundert Ingenieurskunst auf Rollen.
Er bahnt sich einen Weg durch den Gang, murmelt: „Das hier muss mal gemacht werden, sonst sammelt sich ja alles!“ Sein Blick ist der eines Mannes, der Ordnung nicht als Tugend, sondern als Berufung versteht.
Er stöpselt das Gerät ein. Ein sattes Klack, dann dieses vertraute, vibrierende Brummen, das Kindheitserinnerungen an samstägliche Grundreinigungen weckt.
Er beginnt zu saugen.
Im vollen ICE.
Zwischen Frankfurt und Braunschweig.
Mit der Präzision eines Chirurgen.
Niemand sagt etwas. Alle schauen. Einige filmen heimlich. Gerda hält inne beim Kauen. Karl friert mit halbem Brot in der Hand ein. Heinz arbeitet konzentriert, systematisch, als wäre der Teppichboden sein Lebenswerk. Man spürt, er hat auf diesen Moment gewartet.
Der Schaffner kommt, sieht, seufzt. Dann setzt er sich einfach auf einen freien Platz und starrt aus dem Fenster. Ein Mann, der weiß, wann er verloren hat.
Der junge Typ filmt jetzt offen. Er tippt: „German train experience 😭💀😂 #Vorwerk #DB #HeinzSaugt“
Bis morgen wird das Video viral gehen. Dyson wird einen Werbepost machen. Die New York Times schreibt einen Essay: „What German Train Culture tells us about the Illusion of Control.“ Heinz selbst? Er wird widerwillig berühmt. Talkshows, Interviews, Doku-Reihen. Titel: „Sauberkeit. Ordnung. Heinz.“ Dann Burnout. Reha in Bad Nauheim. Comeback auf RTL.
Draußen ziehen Felder vorbei, akkurat, gepflegt, symmetrisch. Deutschland. Land der Gründlichkeit, der Gartenzwerge, der Garantieverlängerung. Gerda schmatzt wieder. Alfred wird weiter beschimpft. Heinz saugt. Der Zug rollt.
Ich lehne mich zurück, schließe die Augen und denke: Wenn es jemals ein Symbol für dieses Land gab – dann war es das. Ein Mann, ein Vorwerk, ein unerschütterlicher Wille zur Sauberkeit.
Ich bin irgendwann in Berlin angekommen. Etwas erschöpft, ein bisschen verwirrt – aber auch seltsam dankbar. Nicht, weil ich die Stadt erreicht habe, sondern weil ich für ein paar Stunden das Gefühl hatte, mitten im echten Deutschland zu sitzen: zwischen Handkäse, Handylicht und Heinz, der mit unerschütterlicher Überzeugung den ICE gesaugt hat.
Vielleicht ist das ja der eigentliche Sinn des Reisens – nicht das Wegfahren, sondern das Hinschauen und das (Mit-)Erleben.