Colectivo Comunitario im (Covid-19-) Kampf gegen die Armut in Guatemala
Lockdown in Guatemala
Am Freitag, den 13.03.2020 meldete Guatemala den ersten Corona-Fall im Land. Noch am selben Tag rief der Präsident den Ausnahmezustand aus. Und keine 24 Stunden später befand sich Guatemala im Lockdown. Während wir in den ersten beiden Wochen noch einen Lockdown light hatten, bei dem lediglich unter anderem der öffentliche Transport und das Herumreisen im Land verboten war, wurde dieser stufenweise einschränkender.
Nach einem mehrtägigen völligen Lockdown, bei welchem vom einen auf den anderen Tag das Verlassen des Hauses verboten war – ich meine das wörtlich: die Verkündigung des absoluten Lockdowns wurde Donnerstag abends um 19 Uhr für den kommenden Tag bekannt gegeben – sind wir mittlerweile bei einem Lockdown nur am Wochenende und einer Ausgangssperre von unter der Woche ab 17 Uhr angekommen.
Eine Aussicht auf Veränderung haben wir gerade nicht, denn unsere offizielle Zahl an Corona-Infektionen steigt zusehends und es wird mit einem Peak erst frühestens Mitte Juni, eher Mitte Juli gerechnet.
Guatemalas Armut in Zahlen
Nach Angaben des Bundesministeriums für Wirtschaft und Zusammenarbeit ist Guatemala mit seinen circa 17 Millionen Einwohner das bevölkerungsreichste Land in Zentralamerika.
Wahrscheinlich ist es gleichzeitig auch das Land mit den größten Unterschieden in der Einkommensverteilung: 56% der Bevölkerung lebt hier unterhalb der Armutsgrenze, 9% sogar in extremer Armut. Fast 20% der Bevölkerung sind unterernährt und ca. 50% der Kinder unter 5 Jahren haben Wachstumsverzögerungen, die auf die mangelhafte Ernährungssituation zurückzuführen sind.
Ein neues Virus und ein neues Projekt: Colectivo Comunitario
Zu Beginn der Ausbreitung von Covid-19 bekamen wir erste Anrufe von Bekannten, die um Unterstützung für ihre Familien baten, da diese ihre Einkommensquellen verloren hatten. Schnell starteten wir einen Aufruf. Schnell wurden Spendengelder gesammelt, um erste Familien mit Care-Paketen und Hygieneartikeln zu versorgen.
Doch als wir genauer hinschauten, wurde uns bewusst, wie groß die Not nach überlebenswichtigen Grundnahrungsmitteln tatsächlich ist. Von dem plötzlichen Wirtschaftseinbruch durch die Pandemie sind Tausende von Familien betroffen, die nun auf Hilfe von anderen angewiesen sind. Das war schließlich der Grund, warum wir CoCo – Colectivo Comunitario – gegründet haben. Denn nur gemeinsam können wir helfen und nur gemeinsam können wir Unterstützung leisten.
Und weil wir seit Wochen die Hauptstadt nicht verlassen dürfen, haben wir uns zunächst auf die Armen-Viertel, die Slums, in Zone 18 konzentriert. Die Situation in diesen Slums ist – entschuldige den Ausdruck – beschissen bis sehr beschissen.
Colectivo Comunitario goes Zone 18 in Guatemala Stadt
Es gibt weder eine funktionierende Wasserversorgung, noch wirklich Strom. An Annehmlichkeiten wie fließend warmes Wasser oder gar WLAN ist dabei erst gar nicht zu denken. Die Häuser, in denen die Menschen leben, sind Hütten. Bestehend aus Wellblech, Holz und – mit etwas Glück – ein paar wenigen Beton-Block-Elementen, die in Ansätzen für Stabilität sorgen.
Die Menschen, die dort leben, sie leben wortwörtlich im Dreck. Mit Hühnern und anderem Getier zusammen. Sie haben kaum ein Dach über dem Kopf und ein Haus – insofern man hierbei überhaupt von einem solchen sprechen kann – , das aus nicht mehr als zwei Räumen besteht. In diesem leben sie. Mit ihrer 4- bis 8-köpfigen Familie.
Und sie leben zumeist von der Hand in den Mund. Vom einen auf den anderen Tag. Denn sie verdienen ihr Geld als Tagelöhner, Straßenmusikant, Fensterwischer an roten Ampeln oder Straßenverkäufer oder sie arbeiten in handwerklichen Berufen, welche in Guatemala sehr schlecht bezahlt werden.
Durch die Covid-19 Pandemie ist nun für die meisten Familien ihr ohnehin schon geringes Einkommen weggebrochen. Und diejenigen, die zumindest theoretisch noch eine Arbeit haben, können nicht arbeiten, weil sie ihren Wohnort aufgrund der Tatsache, dass der öffentliche Transport verboten ist, nicht verlassen.
Die Hygienebedingungen in Zone 18 von Guatemala Stadt sind katastrophal. Die Bildung ist unzureichend und die Kriminalitätsrate ist unfassbar hoch. Schießereien, Mord, Drogenhandel, Vergewaltigung, Zwangsheiraten, Alkohol- und Drogenkonsum stehen dort an der Tagesordnung.
Ohne eine vorherige Anmeldung und ohne Zusammenarbeit mit Kontakten in dieser Zone würden wir – auch trotz der Tatsache, dass wir Hilfe leisten – kaum lebendig aus diesem Bereich der Hauptstadt heraus kommen. Denn die Mara 18 und die Mara Salvatrucha beherrschen dort die Straßen.
Und trotz der Versprechen der Regierung, sich um die arme Bevölkerung zu kümmern, sind bisher nur wenige Hilfspakete in diesen Kolonien angekommen. In den vergangenen 5 Wochen haben wir daher versucht, so viele Familien wie möglich zu versorgen.
Jede Woche besuchen wir mindestens 20 Familien. Vor zwei Wochen waren es sogar 36 Familien! Insgesamt konnten wir in den vergangenen Wochen mehr als 400 Menschen mit Lebensmitteln versorgen.
Mit dem Lockdown an den Wochenenden haben wir allerdings auch unseren Plan umstellen müssen. Statt an den Wochenenden fahren wir nun unter der Woche zu den Familien. Das wiederum gestaltet bisweilen unglaublich kompliziert. Denn von uns drei Mädels – Mira, Frances und ich, sozusagen die Gründerinnen unserer Organisation CoCo – Colectivo Comunitario, sind zwei voll arbeitend.
Und weil diese Menschen natürlich auch kein Internet oder keine Zeitung besitzen, um sich zu informieren, leisten wir auch Aufklärung. Aufklärung über Hygiene-Maßnahmen. Aufklärung in Bezug auf aktuelle Restriktionen. Oder auch einfach nur emotionale Unterstützung.
Dabei auf Distanz zu bleiben, keine Hand auf die Schulter zu legen, keine Umarmungen zu geben, wenn Tränen aus Dankbarkeit fließen, wenn der Schmerz über die Familiengeschichte in den Augen lesbar ist, wenn ein kleiner Funken Hoffnung sich auf dem Gesicht abzeichnet, ist nicht immer leicht.
Es ist vor allem deswegen nicht immer leicht, weil wir nie genau wissen, welches tragische Schicksal sich hinter der nächsten Tür verbirgt.
Es sind Geschichten, die unter die Haut gehen. Es sind Geschichten von alleinerziehenden Frauen, deren Männer aufgrund von kriminellen Taten im Gefängnis sind. Es sind Geschichten von Menschen, die tagein tagaus über nicht mehr als 1 Euro pro Tag verdienen. Es sind Geschichten von Kindern, die die meiste Zeit komplett alleine Zuhause verbringen, weil ihre Mutter versucht, ein paar Becher frisch gepressten Orangensaft auf der Straße zu verkaufen. Es sind Geschichten von Familien, die ihre Habseligkeiten vor ihrem Haus verkaufen in der Hoffnung, sich von dem Erlös ein paar Kilo Reis kaufen zu können.
Es sind Geschichten, die dich aufrühren. Die dich nachts nicht schlafen lassen. Die dir immer wieder aufzeigen, wie dankbar du für das Leben sein kannst, welches du lebst.
Gerade erst letzte Woche ereignete sich eine Geschichte, bei der es beim alleinigen Gedanken daran eiskalt den Rücken herunter läuft: Eine Woche vor unserer Versorgungs-Fahrt besuchen wir für gewöhnlich die Familien, die wir beliefern möchten, um herauszufinden, ob neben Nahrungsmitteln und unserem Care Paket noch andere Dinge benötigt werden. Aufgrund des absoluten Lockdowns am Wochenendes war es uns nicht möglich, die Familien am Samstag zu besuchen, so dass wir unsere Versorgung auf den darauffolgenden Mittwoch legen mussten.
Als wir bei einer Familie ankamen, fehlten zwei Familienmitglieder. Im Gespräch mit der Familie stellte sich heraus, dass die Familie kaum Nahrungsmittel mehr hatte. Um dennoch die Versorgung der Kleinsten garantieren zu können, beschloss die älteste Generation des Haushaltes auf das Essen zu verzichten. Zwei Tage vor unserer Ankunft waren sie verstorben.
In den vergangenen Wochen konnten wir Kollaborationen an Land ziehen, die uns bei unserer Arbeit unterstützen: Al Grano versorgt uns dabei regelmäßig mit Reis, Nudeln, Bohnen und Haferflocken von regionalen Farmern, Tikonel Farms gibt uns vergünstigte Preise für Bio-Gemüse und wird mit uns das nachhaltige Projekt „My Garden“ durchführen und Coperacha versorgt uns durch ihr Projekt mit weiteren Nahrungsmittelspenden und hilft uns bei der Auslieferung.
Außerdem sind wir aktuell in Gesprächen mit Ecofiltro, die mit ihren Trinkwasserfiltern in ganz Guatemala für sauberes Wasser sorgen und DISAGRO, einem internationalen Unternehmen für Düngemittel, landwirtschaftlichem Betrieb und riesigen Plantagen, deren Fokus vor allem auf der Nahrungsmittelproduktion und der Entwicklungshilfe der Region liegt und Niederlassungen in ganz Zentralamerika, Mexiko und Kolumbien hat und Kollaborationspartner in Deutschland besitzt, wie beispielsweise Südzucker.
Eine Kontaktaufnahme mit den Unternehmen Incaparina und Maseca, dem größten Mais-Produzenten in Zentralamerika, habe ich mir dabei für die anstehenden Ferien vorgenommen. Wünsch‘ uns Glück! 😉
Auch haben wir mittlerweile von den großen Supermärkten in Guatemala Stadt – Maxi Despensa, Walmart und Pricesmart – die Erlaubnis, trotz Restriktionen, die für Einkäufe auferlegt wurden, unsere Großeinkäufe zu tätigen. Ein Einkauf ist dabei immer ein besonderes Erlebnis, denn wir bekommen Hilfe nicht nur beim Beladen der Einkaufswägen, sondern auch beim Zählen an der Kasse und bisweilen unsere Einkäufe in das Auto verstaut.
Und wir konnten freiwillige Helfer animieren, die – wie viele andere in diesem Land – aufgrund der Situation ihre Arbeit verloren haben. Diese Unterstützung benötigen wir auch dringend.
Jetzt gibt es aber erst einmal etwas zu feiern! Denn in den vergangenen 6 Wochen waren wir in der Lage, 350 Familien – das sind insgesamt 1.186 Menschen!!! – mit unseren Care Packages zu versorgen!
Aber wir wollen mehr tun! Mehr Menschen helfen! Mehr Nahrungsmittel organisieren! Und vor allem auch unsere Gebiete in der Hauptstadt ausweiten. Denn wir wissen: Neben Zone 18 sind noch ganz ganz viele andere Zonen in der Hauptstadt betroffen, die dringend Hilfe brauchen.
carola wiedmer
Juni 7, 2020 @ 9:05 pm
Hola Manu! Ist ja unglaublich, was ihr dort leistet. Ich war vor 10 Jahren in Guatemala. Es war eine tolle Zeit. Ja, damals waren diese freundlichen Menschen arm und nun noch das Virus dazu. Bewundernswert!
Manu
Juni 8, 2020 @ 3:01 am
Liebe Carola, danke für dein Feedback! Wir versuchen unser Bestes! Es ist nicht immer leicht, aber wir weitermachen und so vielen helfen wie wir können.