Fact Check Guatemala: Fahren mit dem Chicken Bus in Guatemala
Der Chicken Bus in Guatemala – Guatemalas ungewöhnliches Transportmittel
Überall hörst du es in den Straßen von Guatemala: Das Geröhre der Motoren. Das laute, ohrenbetäubende Gehupe. Die Rufe der Assistenten der Busfahrer. Die Schreie der seit langem völlig überfälligen Bremsen. Das Aufgeheule der Motoren, die schon längst ihren Zenit überschritten haben.
Und überall kannst du ihn sehen: Ein Ungetüm von einem Fahrzeug. Angemalt in grellen, bunten Farben. Ausgestattet mit Latino Pop. Aufgedreht auf volle Lautstärke. In Boxen, die höchstens dazu dienen sollten, eine Abstellkammer zu beschallen. Und wenn du ihn hörst und du als Fußgänger unterwegs bist, solltest du ganz schnell die Luft anhalten. Denn wenige Sekunden später wirst von einer dicken, schwarzen Abgaswolke eingehüllt sein. Die Rede ist vom Chicken Bus in Guatemala.
Für diejenigen, die schon durch Guatemala oder Zentralamerika gereist sind, ist der Chicken Bus – sei es als Transportmittel oder lediglich als außenstehender Beobachter – eine Erinnerung, die sie so schnell nicht vergessen werden.
Der Chicken Bus in Guatemala – was ist das überhaupt?
Beim Chicken Bus handelt es sich um ausrangierte Schulbusse aus den USA, die nach 10 Jahren des Betriebes oder 150.000 Meilen auf Auktionen verkauft werden. Ein ganzer Industriezweig reist zu diesen Auktionen und kann dort einen Chicken Bus für nicht einmal $2.000 oder sogar weniger erstehen.
Dann jedoch, nach der Auktion, unterläuft der ursprüngliche Schulbus einer kompletten Transformation. Auch wenn es nicht danach aussieht, sollen die Busse nach ihrer Rückkehr in ihr neues Land angeblich repariert werden. Im Anschluss daran erhalten sie ein komplett neues Aussehen und die gewohnte gelbe Farbe verschwindet vollständig unter einem knallig bunten Anstrich.
Die vorderen Scheiben erhalten religiöse Slogans und das Innere wird ausgestattet mit einer wilden Mischung aus Weihnachtsdeko, Postern von Frauenkörpern und Wrestlern, Bildern von Che Guevara und bunten Airbrushes oder Graffitis. On top kommt eine Soundanlage, deren Musik einer Vergewaltigung deiner Ohren gleichkommt.
Diese vollständige Verwandlung stellt gleichzeitig die Geburt eines neuen öffentlichen Transportmittels dar.
Der Chicken Bus in Guatemala – warum heißt der so?
Die Bezeichnung Chicken Bus kommt tatsächlich aus Guatemala und geht darauf zurück, dass früher die Fahrgäste Tiere, vor allem Hühner, mit diesem Bus transportiert haben. Während der Großteil der Guatemalteken heute weder mit der Bezeichnung Chicken Bus noch mit deren spanischer Übersetzung etwas anfangen kann, findest du hier auch ganz selten tatsächlich noch Hühner an Bord – wenn überhaupt, dann wohl eher in Form einer to go-Box von Pollo Campero.
Warum schreibe ich heute über einen Bus?
Ganz einfach: In den vergangenen Wochen verfolgte ich auf den sozialen Medien immer mal wieder in Foren und Facebook-Gruppen die Suche anderer Reisenden nach Tipps, Empfehlungen, schönen Orten und Transportmöglichkeiten. Alle paar Wochen stolpere ich hierbei über die Frage, wie es sich mit den Fahrten des Chicken Bus in Guatemala verhält, ob dieser sicher sei, ob man ihn benutzen könne. Und immer wieder – zu meinem Erschrecken – stellte ich fest, dass deutsche Reisende anderen Deutschen empfehlen, mit dem Chicken Bus in Guatemala zu fahren.
Mehrfach habe ich versucht, meine Einwände vorzutragen. Mehrfach wurde ich dabei belächelt. Mehrfach erntete ich dafür ironische Kommentare.
Die Frage jedoch, die sich mir hierbei immer wieder aufdrängte, ist folgende: Könnt ihr, die dieses Land vielleicht eine Woche für Tikal, Antigua, Pana und Xela, vielleicht für 10 Tage, im höchsten Fall vielleicht für drei Wochen bereisen, denn euch tatsächlich erlauben, euch ein Bild davon zu machen? Könnt ihr tatsächlich davon ausgehen, dass es sich bei euren Kommentaren um fundiertes Wissen handelt?
Mit Verlaub: Ich glaube, ihr habt während eurer Reise durch dieses Land nicht den Hauch einer Vorstellung, wo ihr euch wirklich befindet und wie es hier tatsächlich zugeht!
Die dunkle Seite des Chicken Bus – Teil 1: Sicherheit der Fahrzeuge und Fahrweise der Fahrer
Trotz des überaus genialen Aussehens und dieser offensichtlichen rollenden Party, die in diesem Transportmittel stattfindet, haben die Busse einen durchaus schlechten Ruf. Und das nicht nur bei Expats, sondern auch unter den Einheimischen.
Der Fahrer eines Chicken Bus fährt – gelinde gesagt – wie Sau! Grundsätzlich viel zu schnell. Grundsätzlich kaum ohne abzubremsen durch eine Kurve. Und in 95% aller Fälle auf eineinhalb Fahrstreifen.
Ich bin wahrlich kein Schisser auf Guatemalas Straßen und Autofahren kann ich, aber wenn ich mit dem Auto unterwegs bin und einen Chicken Bus vor mir sehe, bremse ich automatisch runter und beobachte den Bus.
Ich muss nicht extra erwähnen, dass es in den Bussen keine Gurte gibt, sie meistens vollgestopft bis zum allerletzten Stehplatz und darüber hinaus sind und dass es außerhalb von Guatemala Stadt immer wieder zu Unfällen kommt?
Ganz besonders gefährlich ist hierbei die Strecke zwischen Antigua und Guatemala Stadt. Diese Straße ist zwei-, teilweise dreispurig. Häufig wird sie von Chicken Bus-Fahrern als Formel 1-Strecke verwendet.
Und weil Antigua von Bergen umgeben ist, bedeutet dies für Fahrten nach Guatemala Stadt: Berge hoch und Berge runter. Und demnach: Gas geben ohne Ende, um die Berge überhaupt erst einmal hochzukommen.
Gebremst wird beim Runterfahren dann natürlich nicht. Denn Zeit ist Geld. Mehr Fahrten = mehr Passagiere = mehr $$$! So einfach! Und deswegen geschehen genau auf dieser Strecke – zur Überraschungen von exakt niemandem, der hier lebt – zig Unfälle.
Die dunkle Seite des Chicken Bus – Teil 2: Die Kriminalität in Guatemala
Die deutlich größere Gefahr ist jedoch die der innerstädtischen Busse, die für gewöhnlich durch sogenanntes gang territory führen. In diesen Gebieten, die sich sowohl außerhalb der Stadt als auch mitten in der Stadt, beispielsweise am Trebol, befinden, wird von den Fahrern der Busse erwartet, dass sie Zölle bezahlen. Häufig werden die Fahrer und deren Assistenten dabei Opfer von Gewalt.
Fahrer eines Chicken Bus zu sein gilt übrigens nach Ansicht eines The New Republic-Artikel als the most dangerous job in the world. Nicht grundlos, denn jährlich werden auf offener Straße mehrere Chicken Bus-Fahrer von Gang-Mitgliedern erschossen oder zumindest die Insassen der Busse ausgeraubt. Frei nach dem Motto: Money for lives. Either you pay, or we start killing drivers again.
Als ich mich eines Tages – ich war gerade einen Monat in Guatemala – mit Eltern eines Schülers bei einem Elterngespräch austauschte und wir am Ende des Gesprächs über privatere Dinge quatschten, mir die Frage gestellt wurde, was ich unbedingt in Guatemala machen wollen würde, gab ich völlig naiv folgende Antwort: I definitely need to ride a chicken bus some day! Während Mama mich nur anlächelte, gab Papa mir Folgendes eindringlich zu verstehen: You should do that quickly: Run in the bus, take a selfie and get out of the bus as fast as you can!
Ein mittlerweile guter Kumpel, der seit knapp 6 Jahren in Guatemala lebt, formulierte mir gegenüber Folgendes: Whenever you consider riding on a chicken bus, do this literally naked: Don’t take anything with you – no money, no purse, no camera! Just about Q50. In case the bus is robbed, you can give them at least a bit of money.
Gerade erst vor kurzem sprach ich mit einer Kollegin, die täglich von Antigua nach Guatemala Stadt fährt, über den Chicken Bus. Sie berichtete mir, abgesehen von ihren Schulbüchern und Q20 (Q10 für die Hinfahrt, Q10 für ihre Rückfahrt) absolut nichts bei sich zu tragen – weder einen Geldbeutel, noch ein Handy, noch Schmuck oder eine Uhr. Sie ist Spanierin und könnte rein vom Aussehen her auch relativ problemlos als Guatemaltekin durchgehen. Ihr Ratschlag an mich: Don’t speak! Not a single word! Just say „Antigua“ and pay the ticket.
Der Chicken Bus in Guatemala – die aktuelle Situation
Wenn du den oben verlinkten Artikel gelesen hast, ist dir sicher nicht entgangen, dass er aus dem Jahr 2013 stammt. Da könnte sich ja mittlerweile etwas zum Positiven verändert haben!
Vergisst du bitte nicht, dass Guatemala, auch wenn Touristen zuallermeist davon nichts mitbekommen, nach wie vor zu den Ländern mit einer hohen Kriminalitätsrate zählt? Und vergegenwärtigst du dir bitte noch einmal, dass das Auswärtige Amt bis vor einigen Monaten noch von Reisen mit dem Bus nach Tikal abgeraten hatte?
Am 15. Mai 2018 berichtete die Prensa Libre in einem ausführlichen Artikel über zwei bewaffnete Angriffe in Villa Nueva (10 km südlich von Guatemala Stadt) und Chimaltenango (circa 50km westlich von Guatemala Stadt, auf der Straße, die ebenfalls nach Antigua führt!). Wir sprechen hier also nicht ausschließlich von einem städtischen Phänomen. Getötet wurden dabei insgesamt drei Menschen: Im einen Fall der Busfahrer und im anderen Fall der Busfahrer und sein Assistent.
Ein weiteres Ereignis hatte erst ein paar Tage zuvor stattgefunden: Am 2. Mai 2018 wurde ein Busfahrer bei einem bewaffneten Anschlag in Chinautla (20km nördlich von Guatemala Stadt) getötet. Am 11. April 2018 wurden zwei Fahrer eines Motorradtaxis und eines Busses in Mixco ermordet. Am 13. März traf es erneut Mixco – dieses Mal einen Minibus. Das Ergebnis: 2 Tote, 5 Verletzte. Und im Januar 2018 wurden ein 9-jähriges Mädchen, ein Busfahrer und sieben weitere Menschen getötet und einige mehr in der ganzen Metropolregion verletzt.
Ich könnte ewig so weiter machen und dir einen Zeitungsartikel nach dem anderen zitieren. Ich könnte zurückgehen in das Jahr 2017. Ich könnte dir auch davon erzählen, dass im März an drei verschiedenen Tagen an drei verschiedenen Orten in Guatemala Stadt drei Taxifahrer auf offener Straße und am hellichten Tage erschossen worden sind. Aber Taxifahrer sind ja heute nicht mein Thema…
Der Chicken Bus in Guatemala – (m)ein Fazit!
Liebe Reisetipps-Gebende, nur weil Guatemala in den deutschen Medien kein Thema ist und man wenig bis gar nichts über dieses Land erfährt, heißt das nicht, dass hier alles Friede-Freude-Eierkuchen ist und sich die Menschen hier ausschließlich lieb haben! Guatemala ist nicht Disney World!
Wenn Einheimische, die hier geboren sind und Menschen, die hier seit Jahren leben, anderen Menschen von Fahrten in einem Chicken Bus abraten, wenn die Presse monatlich – ach, was sage ich?! wöchentlich! – von Zwischenfällen berichtet, in welche diese Busse involviert sind, wie könnt ihr davon überzeugt sein, dass ihr mit eurer Meinung und Reiseempfehlung richtig liegt?
Bevor ihr zukünftig auf sozialen Medien behauptet, der Chicken Bus in Guatemala sei sicher, ein einziger Spaß, weil er so toll bunt und schön anzuschauen ist und das einzige Problem darin bestünde, dass die Bushaltestellen so unübersichtlich seien, seid doch bitte lieber still und dankbar dafür, dass euch auf eurer Fahrt nichts passiert ist! Aber bitte bringt mit euren Empfehlungen und der Verbreitung eures Halbwissens nicht auch noch eure Mitmenschen in Gefahr!
Ein positives Ende – Ode auf den Chicken Bus in Guatemala
Und weil ich ungern meine Blogbeiträge negativ ende, möchte ich dem Chicken Bus in Guatemala noch ein paar positive Sätze widmen:
Natürlich ist der Chicken Bus auf einer low budget Reise ein super günstiges Transportmittel, um von A nach B zu kommen. Wahrscheinlich ist er sogar das günstigste Transportmittel überhaupt: Eine Fahrt mit dem Chicken Bus in Antigua kostet zwischen Q2 und Q4,50. Für Q10 (circa 1,16 Euro) kommst du von Antigua nach Guatemala Stadt, für Q30 nach Pana. Und Menschen, die sich auch diese Fahrt nicht leisten können, weil sie von Q2 (!) pro Tag leben müssen, kostet die Busfahrt lediglich Q0,25.
Trotz seines schlechten Rufes, der ihm durchaus begründet anhaftet, ist und bleibt der Chicken Bus sicherlich das Symbol Guatemalas, denn egal wie du es siehst: Guatemala wäre nicht Guatemala ohne die schrillen, knallig-bunten, ohrenbetäubenden Chicken Buses.
Bist du auf der Suche nach weiteren hilfreichen Tipps für deine Reise nach Guatemala? – Dann stöbere doch einmal auf meiner Guatemala-Seite. Oder suchst du Spezifischeres und benötigst Informationen zur Einreise nach Guatemala, Wissenswertes & Sehenswürdigkeiten in Guatemala, Allgemeineres für deine Reise nach Guatemala, Hilfestellungen zur Bargeldabhebung, ein kurzes Briefing über 15 Dinge, die du auf keinen Fall in Guatemala machen solltest oder 10 seltsame Dinge, die in Guatemala völlig normal sind? Auch wenn du dich über Transportmöglichkeiten, wie Uber und Taxi, das Autofahren in Guatemala oder das Fahren mit der Transmetro in Guatemala Stadt informieren möchtest, bist du hier natürlich richtig! 😉
Eve
Juni 18, 2018 @ 5:08 am
Vielen Dank für diesen Bericht! Wie schön, dass sich jemand traut, auf seinem Blog auch mal einen kritischen Artikel zu veröffentlichen anstatt die gesamte Welt in rosarote Wolken einzupacken! Der Bericht kam für uns wie gerufen – wir starten nämlich gerade unsere Reiseplanung für Mittelamerika – und Guatemala steht mit auf dem Plan. Nach Deinen Tipps werden wir definitiv zweimal über die Wahl unseres Transportmittels nachdenken und den einen oder anderen Euro mehr investieren 😉
Mogroach
Juni 18, 2018 @ 10:47 am
Wie in Indien… same same but different!
Wir verzichten in Ländern mit Kamikaze-Verkehr nur zu gerne auf öffentliche Busse, denn auch unsere Erfahrungen mit den Gefährten und deren Piloten sind haarsträubend… und nur weil´s tooootal cool und voll local ist steig ich sicher nicht in so ein Teil, das ich von zu Hause nur vom Schrottplatz kenne.
Und naggisch fahren wär auch net unser Ding 🙂