Die 8. Todsünde: Tourismus – Willkommen in der Welt von Thomas Cook
Die achte Todsünde: Tourismus – Willkommen in der Welt von Thomas Cook
„Reisen ist eine Todsünde.“ (Bruce Chatwin)
Frankfurt Flughafen. Die Wartehalle A von Terminal 1 ist gut frequentiert: Ein paar Bonobos in Anzügen, die aufgrund ihrer Business Gold Card von whichever-Fluggesellschaft Business Class irgendwohin fliegen, Paviane, die vergessen haben, vorab einen Online Check-In durchzuführen und nun gelangweilt in ewig langen Schlangen ihrer jeweiligen Schalter warten, ein paar Brüllaffen, die versuchen, die Aufmerksamkeit ihrer Umgebung auf sich zu ziehen, ein paar Orang-Utan-Weibchen, die sich lautstark über einen Schimpansen aufregen, ein Schweinsaffe, der leider auch so riecht wie er heißt. Der Flughafen – eigentlich ein Ort der Zivilisation. Ausgerechnet hier zeigt sich das zoologisch-Animalische unserer Spezies in aller Offenkundigkeit. Aber hier lassen sich auch die besten und repräsentativsten Sozialstudien durchführen.
Nach dem Check-In begeben sie sich alle zur Security, legen Hab und Gut auf Laufbändern ab, lassen zuerst ihre Cremes, Uhren, Gürtel, elektronischen Geräte, Prada-Täschchen und dann sich selbst durchleuchten. Sie verziehen keine Miene und schon gar keine, die eine positive Ausstrahlung ausmachen würde. Es soll schnell gehen und dabei sind sie diejenigen, die für die Dauer verantwortlich sind. Gute Laune völlig fehl am Platz. Der einzige, der versucht, Stimmung in die ganze Situation zu bringen, ist der Beamte am Security Check. Ich mache ein paar Späße mit ihm. Er wirkt dankbar. Kommt wohl nicht so häufig vor. Ja, all the world’s a stage, we are merely players – und ich bin mittendrin. Mittendrin und irgendwie doch nicht dabei.
Im Wartebereich der Gates trifft man sie dann fast alle wieder. Es sollte dringend einmal gelüftet werden. Zu wenig Sauerstoff lähmt das Hirn. Das Boarding ist Routine. Einsteigen, auf sein Recht auf freie Wahl des Handgepäckplatzes beharren und diesen vehement und nötigenfalls lautstark verteidigen, in den Sitz fallen lassen, iPhone ausschalten, tief und unüberhörbar durchatmen, wegdösen, aufschrecken, wenn Getränke ausgegeben werden, einen Tomatensaft mit Pfeffer bestellen, wieder wegdösen, erneut aufschrecken, wenn das Essen verteilt wird – man könnte ja etwas verpassen. Könnte bitte mal jemand ein Fenster öffnen?
Zwölf Stunden später: Ankunft Singapur. Über 15 Millionen Touristen besuchen den Inselstaat jedes Jahr. Die malaysischen Touristen sind hierbei nicht eingerechnet. Viele bleiben nur zwei bis vier Tage und reisen dann weiter. Einen anderen Sinn als Spaß hat diese Metropole nicht. Die Kultur tritt nahezu völlig in den Hintergrund. Im Vordergrund: riesige Gebäude, Vergnügungsparks, zig Casinos, Bars mit völlig überteuerten Cocktails, die Zuhause auch nicht anders schmecken würden – aber man wirbt ja damit, dass man nicht in Singapur war, wenn man nicht deren Cocktail getrunken hat – und allen voran das Marina Bay Sands. Wer im Schiffsdach dieses Hotelpools zu planschen in der Lage ist, der hat es geschafft und schwebt wortwörtlich über allem. Der Rest der Stadt – ein einziges Entertainment-Programm mit Fokus auf Exzess, Exzess und Exzess. Und überall Touristen, die sich gegenseitig, selbst oder zusammen mit völlig Unbekannten fotografieren, weil sie es einfach nicht glauben können, dass sie Teil dieser Welt sind. Dieser Welt des Massentourismus. Dieser ach-so-neuen-Welt.
Die alte Welt ist völlig vergessen. Wen interessiert im 21. Jahrhundert noch Pharao Necho II, der die Umsegelung Afrikas 600 v. Chr. in Auftrag gab? Oder Gunnbjörn Ulfsson, der 900 nach Grönland schipperte, Kolumbus, der 1492 eigentlich Indien entdecken wollte und stattdessen an der Ostküste der heutigen USA strandete? Vasco da Gama, der 1498 schließlich einen Seeweg nach Indien suchte und fand, während Kolumbus immer noch auf seinem Boot saß, auf der anderen Seite der Welt herumschipperte und Trinidad und Tobago klarmachte. Es folgten Magellan, seit welchem wir Gott sei Dank wissen, dass die Erde eine Kugel ist, und Cartier – und mit ihm die Ausbeutung Mittel- und Südamerikas. Warum das alles? – Persönlicher Gewinn, Christianisierung, Gewürze, Stoffe, die Hoffnung auf Reichtümer und wissenschaftlichen Ruhm. Mit Entertainment und Exzess hat das aber irgendwie auch wenig zu tun.
Goethe sagte über das Reisen: „Die beste Bildung findet ein gescheiter Mensch auf Reisen.“ Er machte sich auf seinen Weg nach Italien. Fast vierzig Jahre später entdeckte Heine das Reisen für sich und wanderte ein bisschen durch den Harz. Wiederum dreißig Jahre später verließ Fontane sein geliebtes Land und reiste nach Schottland, um die Highlands zu bestaunen. Joseph Conrad reiste im ausgehenden 19. Jahrhundert in den Congo und erzählte ausschweifend in „Heart of Darkness“ vom ethisch-moralischen Verfall der Europäer während der Verwirklichung ihrer Expansionsideologien. Und heute?! – Heute sitzen „gescheite Menschen“ in Fliegern nach Singapur. Dass sie so reisen wie sie reisen, ist unter anderem Thomas Cook zu verdanken, der 1869 die erste Pauschalreise durchführte. Zuerst Ägypten, dann die Welt. Die Grundsteine für den Massentourismus waren gelegt. Vom Tourismus der Massen konnte aber zunächst noch nicht die Rede sein, da sich die Reisen so gut wie niemand leisten konnte.
Und während das 19. Jahrhundert für eine gewisse Mystik des Reisens stand, das 20. Jahrhundert für die Mechanik des Reisens – Ikarus musste sich nun keine Flügel mehr ankleben, sondern konnte bequem in Wrights Fliegerchen steigen, etwas holprig war’s trotzdem noch –, steht das 21. Jahrhundert wohl doch eher im Zeichen der Multiplikation – Multiplikation zwar in der Verschiedenheit der Möglichkeiten, aber auch in der Verwirrtheit und der Dummheit.
Früher war man mit dem Schiff oder mit dem Zug unterwegs. Manchmal sogar zu Fuß. Tagelang. Monatelang. Der Weg war das Ziel. Heute setzt sich der Reisende gemütlich in ein Flugzeug, überfliegt in den zwölf Stunden nach Singapur drei Religionen, drei Kriege, zwei Umweltkatastrophen, eine Finanzkrise und einen Völkermord. Früher waren die Reisenden auf der Suche nach der Welt und dem, was sie im Innersten zusammenhält. Heute suchen Reisende sich selbst. Früher wollten sie etwas lernen. Heute muss man sich wohl eher fragen: Macht Reisen vielleicht irgendwie dumm?
Es ist von Bedürfnissen die Rede, von Entschleunigung, von slow travel. Flucht aus dem ach-so-stressigen Alltag. Die Entdeckung der Welt ist in den Hintergrund getreten. Das eigene Ego schwebt über allem. Schneller. Weiter. Ferner. Wer kann, exklusiver. Und der Reisende schafft sich die Städte nach seinem Bilde. Er erschafft sie neu. Er dreht das Sightseeing um und wird selbst zu einer Attraktion. Zu seiner eigenen Attraktion. In seinem eigenen one-act-play. Das Internet hilft ihm dabei. Suchmaschinen gibt es mittlerweile wie Sand am Meer. Auch welche, die die Ergebnisse der unterschiedlichen Suchmaschinen noch einmal vergleichen. Zwei Klicks und der Billigflieger bringt einen exakt dorthin, wo es gerade angesagt, schön warm oder günstig ist oder wo die Nachbarn gerade erst waren. Ein Hoch auf die Globalisierung.
Singapur Flughafen: Auf meinem Rückflug nach Frankfurt überlege ich mir für einen Sekundenbruchteil, ob ich heute mal dem me-too-Effekt nachgebe und mir anstelle einer Coke Zero einen Tomatensaft bestellen soll. Ich muss selbst über diesen Gedanken lachen, entscheide mich dagegen. Ich mag keinen Tomatensaft. Auch dann nicht, wenn ich im Flieger sitze. Mein Bedürfnis ist ein anderes. Ich denke an Thomas Cook. Mit der Einführung seiner Coupons und Reisechecks wollte er eine moralische Verbesserung bei den Reisenden bewirken. Damals. Die Welt schien damals aber auch um einiges größer. Natürlich ist sie zwischenzeitlich nicht kleiner geworden. Sie ist noch genauso groß wie vorher. Es sieht nur so aus. Alles andere aber hat sich verändert. Die Welt hat sich verändert. Oscar Wildes Worte (k)reisen durch meinen Kopf: „Reisen veredelt den Geist.“ Das Flugzeug startet. Ja, und heute ist Reisen wie Thomas Cook auf Speed.
Ilona
Februar 23, 2017 @ 12:15 pm
Gut zu lesen und im Gros gebe ich Dir da Recht.
Der Fairness halber muss man sagen, dass auch früher – zumindest in den Kreisen, bei denen Reisen nicht nur eine wirtschaftliche Notwendigkeit war – die Reisenden oft in erster Linie an sich dachten und die Städte nach ihrem Bilde erschaffen haben.
Goethe ist ja ein gutes Beispiel, der floh einfach. Wenn irgendwas nicht nach Plan lief, war er weg… Da gings auch ganz eindeutig um ihn als Person, um das sich selbst Suchen und Finden…
Habe letztes Jahr einen Beitrag über Frauen, die in den Orient reisten, geschrieben. Auch bei denen ging es nicht (immer nur) um das Entdecken fremder Kulturen. Da schwang viel Sehnsucht nach Freiheit, Selbstverwirklichung und Ausbruch mit.
LG, Ilona
Katarzyna Oberdorf
August 26, 2017 @ 9:32 pm
So sehr sich der Individualreisende von all dem Massentourismus abzusondern, abzugrenzen sucht, es ändert nicht das Geringste daran, dass ebendieser Individualreisender, ob er will oder nicht, Teil des Massentourismus ist, ja, er ist Teil der Massen, die jedes Jahr aufs neue die Welt überfluten. Und so sehr er sich von dem, was er als Pauschautourismus bezeichnet, zu distanzieren sucht, letztendlich endet das traurigerweise nur darin, dass ein Reisender die Art und Weise, wie andere Menschen reisen, anprangert und auf Ausschließlichkeit pocht. Doch was unterscheidet denn nun den Individualreisenden vom „gemeinen Touristen“, der mit seinem Cocktail in Singapur sitzt und auf die Skyline blickt? Hat denn unser Individualreisender keine Flüge gebucht? Hat er denn keine Souvenirs, welcher Art auch immer, und seien es auch „nur“ Selvies vor diversen Tempeln, mit nach Hause genommen? Hat er denn nicht konsumiert? Und ist er nicht Teil dessen, was er so leidenschaftlich verurteilt? Wir alle sind Teil des Massentourismus, wir alle, die wir uns aufmachen, die Erde zu erkunden. Doch wir werden nicht damit aufhören, nein, auch unser leidenschaftlicher Individualreisender nicht, weil das einfach zu geil ist und uns einen zu großen Kick verschafft, und ja, ist das Reisen für unseren Reisenden nicht ein Weg, sein Leben in Deutschland und seine „Luxusproblemchen“ mit anderen Augen zu sehen? Fliehen wir nicht alle ein Stückweit vor dem Alltag? So what?