Von falschen Entscheidungen – die Strecke von Flores nach Lanquin
Die Strecke von Flores nach Lanquin – von falschen Entscheidungen
Alle Wege führen nach Rom – und mehrere Wege führen dich von Flores nach Lanquin. Dennoch tust du gut daran, dich gerade im Hinblick auf die Strecke von Flores nach Lanquin entweder von einem Shuttle Unternehmen fahren oder vorher von Einheimischen beraten zu lassen. Tust du das nicht, kann diese Strecke nämlich schnell zu einer doppelt so langen oder zu einer Horrorfahrt der ganz besonderen Art werden.
Aufgrund der Tatsache, dass ich auf dem Roadtrip mit meiner Mum im eigenen Auto unterwegs war, kam für uns ein Shuttle-Unternehmen nicht in Frage. Und weil auf der bisherigen Strecke alles gut gegangen war, hatte ich auch nicht die Notwendigkeit gesehen, mich für unsere Fahrt von El Remate nach Lanquin vorab streckentechnisch beraten zu lassen.
Google Maps und Waze in Guatemala
Wenn du schon einmal Guatemala bereist hast, ist dir sicherlich nicht entgangen, dass du auf Dauer mit Google Maps nicht wirklich weit kommst. Die Alternative ist daher Waze, eine App, die auf eine Community basiert, in welcher du nicht nur aktuelle Staumeldungen, Polizeikontrollen oder Blitzer in Echtzeit erhältst, sondern auch jeder Strecken aufzeichnen und der Community zur Verfügung stellen kann.
Und gerade weil das so ist, nutze ich Google Maps in Guatemala zwar, um mich über Entfernungen zu informieren, fahre jedoch aufgrund der zeitlichen Verlässlichkeit überwiegend mit waze.
Die Strecke von Flores nach Lanquin – drei Möglichkeiten
Grundsätzlich hast du drei Möglichkeiten, von Flores nach Lanquin zu fahren – 2 davon werden dir auf Google Maps angezeigt, einer dieser beiden Möglichkeiten auch auf Waze. Die dritte Möglichkeit – eben genau die, die wir hätten fahren müssen – wurde uns nicht angezeigt.
Möglichkeit #1 – don’t do it
Gibst du die Strecke von El Remate oder Flores nach Lanquin in Waze ein, stellst du jedoch sehr schnell fest, dass in Bezug auf die Streckenführung nur eine einzige Strecke hinterlegt ist – nämlich die über Lago Izabal, bis knapp vor Guatemala Stadt und Coban.
Diese Strecke ist mit über 500km und mehr als 10 Stunden Fahrtzeit angesetzt.
Gibst du die Strecke übrigens bei Google Maps ein, erhältst du hierfür komplett andere Daten: 300km/Fahrtzeit: 6,50 Stunden – völlig utopisch, aber das nur am Rande, denn für die Strecke von Guatemala Stadt an den Lago Izabal benötigst du 5 Stunden und vom Lago Izabal nach El Remate noch einmal mindestens 4 Stunden Fahrtzeit.
Möglichkeit #2 – don’t do it
Die zweite Möglichkeit, um die Strecke von Flores nach Lanquin zu fahren, besteht aus folgenden Zwischenstationen: La Libertad, Sayache, Raxruha, ganz viel Zickzack und schließlich Lanquin. Auf Google Maps wird die Entfernung mit 245km und einer Fahrtzeit von knapp 6 Stunden angegeben.
Möglichkeit #3 – do it
Diese dritte Möglichkeit, um die Strecke zu fahren, wird auf keiner Karte angegeben. Sie besteht aus den folgenden Zwischenstationen: La Libertad, Sayache, Raxruha, Chisec, Coban und schließlich Lanquin.
Und gerade weil diese Strecke von Wazern noch nicht aufgezeichnet wurde, sie auf Google Maps als weiße Straße eingezeichnet ist, die überdies einen offensichtlich großen Umweg darstellt, habe ich mich dagegen entschieden, diese Strecke zu fahren. Denn abgesehen von dem streckentechnischen Umweg ging ich bei einer weiß eingezeichneten Straße davon aus, dass es sich um eine nicht ausgebaute Schotterpiste handeln würde.
Wie daneben ich mit dieser Entscheidung liegen würde, wie viel Zeit uns diese Unüberlegtheit kosten würde, wir dadurch an diesem Reisetag weit über 9 Stunden im Auto saßen und wie sehr uns dieses Verlassen auf Bekanntes richtig zum Verhängnis wurde – all das dämmerte mir zu diesem Zeitpunkt noch nicht…
Anmerkung: Die letzten 15 Kilometer von Pajal nach Lanquin sind ebenfalls als weiße Straße eingezeichnet. Bei dieser handelt es sich tatsächlich um eine Schotterpiste – eine der schlimmsten Art. Für diese Strecke benötigte ich knapp 60 Minuten.
Meine Strecke von Flores nach Lanquin – zwischen Hoffen und Bangen
Streckenabschnitt 1: Flores – Sayaxché
Der erste Streckenabschnitt von Flores nach Sayaxché ist vergleichsweise easy machbar, sofern du kurz nach Flores links Richtung San Francisco und San Juan de Dios abbiegst und nicht über San Antonio fährst. Wenngleich die Strecke über San Antonio auf der Karte kürzer aussieht, so ist sie dies aufgrund der Straßenverhältnisse auf keinen Fall, denn es erwarten dich Kies, Schotter und jede Menge Schlaglöcher.
Verfahren kannst du dich auf diesem Streckenabschnitt kaum, denn es führt nur eine einzige Landstraße Richtung Süden, die nur durch einen kleinen Fluss in Sayaxché, wo du mit der Autofähre übersetzen kannst, getrennt ist.
Eine Zwangspause müssen wir trotzdem nach der Fähre einlegen, denn einerseits müssen die Hunde mal ihr Geschäft vertreten und andererseits – so stelle ich fest, als wir das Fahrzeug am Ufer des Flusses abstellen – habe ich ein Loch im Reifen, so dass binnen weniger Minuten nicht einmal ansatzweise mehr an eine Weiterfahrt zu denken ist.
Dankbar bin ich – einerseits für meine Umsichtigkeit, vor unserem Roadtrip alles Notwendige (Wagenheber, Radkreuz, Spray, Schraubendreher) für eine Panne in das Auto eingepackt zu haben und andererseits die Tatsache, dass mir sogleich drei Guatemalteken zu Hilfe eilen, als ich mich an das Loslösen meines Reserverades im Kofferraum machen und den Reifenwechsel spontan komplett für mich übernehmen.
Streckenabschnitt 2: Sayaxché – Raxruhá
Keine 15 Minuten später befinden wir uns an der nächsten Tankstelle, um für den letzten Streckenabschnitt noch einmal vollzutanken (notwendig wäre das nicht gewesen, denn der Tank war mehr als die Hälfte voll, aber im Hinblick darauf, was sich in den kommenden Stunden ereignen würde, war das wohl eine Eingebung) und Luft auf das Reserverad zu geben.
Die Stimmung im Fahrzeug könnte kaum besser sein. Die Strecke ab Las Pozas ist ein einziger Traum. 40 Kilometer kerzengeradeaus. Perfekter Straßenbelag. Keine Schlaglöcher. Nur wenige Tumulus. Und rechts und links schießt das Marioland an uns vorbei.
Marioland – so nenne ich die Hügel rechts und links der Fahrbahn. Wohlwissend, dass es sich hierbei um noch nicht ausgegrabene Mayaruinen handelt. Es ist eine der schönsten Strecken in ganz Guatemala.
Streckenabschnitt 3: Raxruhá – Lanquin
Kurz vor Raxruhá gabelt sich der Weg. Ein Pfeil zeigt rechts. Diese Strecke führt nach Coban. Google Maps zeigt nach links. Wir stehen an der Kreuzung. Der Blick auf die Karte verrät mir, dass beide Strecken auf Google Maps gelb sind. Stimmt diese Angabe, sollten beide Strecke gut fahrbar sein, denn für gewöhnlich sind lediglich die weißen Strecken in einem schlechten Zustand.
Stimmt diese Angabe, müsste die Strecke links herum deutlich kürzer sein als rechts herum. Stimmt diese Angabe, dann hätten wir die Möglichkeit, binnen 40 Kilometer in Lanquin zu sein. Und da unser Ziel nicht Coban sondern Lanquin ist, würden wir keinen Umweg fahren müssen. Sollte, müsste, hätte, würde…
Eigentlich hätte ich es wissen müssen. Denn eine Anhäufung von Konjunktiven ist in Guatemala die Garantie schlechthin, dass etwas schief gehen wird – und dieses Schild, das den Weg nach Coban anzeigt – so weiß ich jetzt –, steht da nicht grundlos.
Der Weg ist zunächst gemütlich zu fahren. Eine zweispurige Landstraße führt mitten durch große Wiesen, Felder und Kuhweiden. Autos kommen uns keine entgegen. Und weil wir seit unserer Panne in Sayaxché schon über 2 Stunden unterwegs sind, die Straße gleich in die Berge führen wird, frage ich die Mädels, ob wir noch eine Pippi-Pause einlegen sollen. Während unsere Hunde im Gras schnuppern, fährt ein Pickup an uns vorbei. Voll beladen mit Menschen. Gut, denke ich bei mir, so schlimm kann die Strecke also nicht werden, da sind immerhin Menschen.
Schließlich führt der Weg in das Gebirge. Schotter, Kies, Felsen, Schlaglöcher. Es geht gemächlich hinauf. Nichts, das ich noch nicht gesehen habe. Nichts, das mich daran zweifeln lassen könnte, dass mein Auto das nicht schaffen könnte.
Nach 30 Minuten – wir sind gefühlt schon mitten im Gebirge – steht da plötzlich ein einsamer Mann auf dem Schotterweg. Binnen Sekunden habe ich die komplette Situation gescannt. Steinbrocken auf dem Weg. Eine gespannte Schnur. Ein einsamer Typ mit einem Spaten und einer Machete. Eine Waffe sehe ich nicht. Aber das hat nichts zu bedeuten.
Bei meinem Sicherheitstraining, das ich vor meinem Auslandsaufenthalt absolvieren musste, habe ich gelernt, in unklaren Situationen auf keinen Fall die Fensterscheibe herunterzufahren. Das ist ganz eindeutig eine unklare Situation. Aber ich bin alternativlos. Ich lasse das Fenster herunter und schaue ihn fragend an. Wir sind hier für den Ausbau der Straße zuständig und arbeiten den ganzen Tag. Die Durchfahrt kostet Q200 (22 Euro).
Ich unterdrücke ein Lachen. Wer ist wir? – Die Leute von der Finca da unten! – Wer sind die? – Na, die da unten. Du hast doch sicher das Schild gesehen! Mit meinen blöden Fragen versuche ich ihm klar zu machen, dass ich ihm nicht glaube. Hier geht es einzig und allein um Geld. Die Frage ist nur, um wieviel Geld.
Ich will mit denen sprechen! Ich bezahle sicher keine Q200. Da fahre ich lieber zurück. – Ich rufe sie an. Er führt ein Fake-Gespräch. Mehrfach sage ich ihm, dass ich mit den Leuten am Handy sprechen möchte. Als er auflegt, sagt er, sie hätten leider keine Zeit, mit mir zu sprechen. Wieder unterdrücke ich ein Lachen. Auf keinen Fall darf ich ihm signalisieren, dass ich ihn nicht ernst nehme.
Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass meine Mum in ihrer Tasche nach ihrem Geldbeutel kramt. Ich flüstere: Lass‘ den Geldbeutel, wo er ist. Hol bitte nichts raus, das signalisiert, dass wir irgendetwas Wertvolles bei uns haben. – Okay, pass auf, ich geb dir Q20. Mehr gibt’s nicht. Mehr hab‘ ich nämlich nicht. Wir haben da unten getankt und wir brauchen erstmal einen Geldautomaten.
Er nimmt die Q20, lässt die Schnur herunter, legt zwei große Steine auf die Seite und lässt uns passieren. Meine Freundin lacht und gratuliert mir zu meinem Verhandlungsgeschick.
Mir ist gerade nicht mehr nach Lachen zumute. Denn ich frage mich, womit wir es hier zu tun haben. Ist das organisiertes Verbrechen, wofür der Peten, der gefährlichste Staat Guatemalas, der deswegen so gefährlich ist, weil selbst die Polizei nicht mehr für Ordnung sorgen kann (und will?), bekannt ist?
Oder ist das einfach nur ein armer Mann, der versucht, sich auf diese Weise sein Geld zu verdienen und seine Familie durchzubringen? – Ich weiß es nicht. Und dass ich es nicht einmal ansatzweise einschätzen kann, macht mich wahnsinnig.
Während ich mit meinem Auto über die Steine und den Kies hopple, weiteren Schlaglöchern ausweiche, und die Strecke in hundert Meter-Schritten angehe, bin ich fahrtechnisch auf Auto-Pilot. Körperlich und gedanklich bin ich im Alert Status. Die Alarmglocken in meinem Kopf hören nicht auf.
Ich verfolge die beiden Möglichkeiten gedanklich weiter. Wir groß ist die Chance, dass es sich tatsächlich um organisiertes Verbrechen handelt? – Nicht groß! Kann ich es ausschließen? – Nein! Wenn es sich um organisiertes Verbrechen handelt, wie kann sich die Situation im schlimmsten Fall weiterentwickeln?
Ich gehe die Fakten durch…
Fakt ist, der Typ hat gesehen, dass drei Frauen mit Gepäck im Auto sitzen. Fakt ist auch, der Typ hat ein Handy, mit dem er – zumindest theoretisch – kommunizieren kann. Ob er Geld hat, um sein Handy aufzuladen, um tatsächlich telefonieren zu können, weiß ich nicht.
Ich schaue auf mein Handy. Kein Signal. Fakt ist also auch, dass zumindest mein Telefonanbieter hier oben nicht funktioniert. Und Fakt ist, dass ich mit einem Reserverad fahre. In jedem Fall sollten wir eine weitere Panne vermeiden.
Wie so oft in unklaren Situation spiele ich worst-case-Bingo. Was ist das Schlimmste, das uns passieren könnte? – Wir könnten eine weitere Panne haben! Quark, denke ich, das wäre blöd, aber irgendwie machbar. Ich könnte mit dem Auto aufsetzen und mir irgendwas im Unterboden kaputt machen. – Quark, denke ich, das wäre zwar dumm, weil es auf unvorsichtiges Fahren zurückzuführen ist, aber irgendwie schaffbar.
Ich höre die Alarmglocken in meinem Kopf. Wenn da nach den ersten Kilometern in den Bergen einer mit einer Schnur steht und Wegzoll verlangt, kann ich davon ausgehen, dass ein paar Kilometer vor dem Ausgang der Berge ebenfalls einer mit einer Schnur steht.
Nun sind es keine Glocken mehr. Mittlerweile sind es Sirenen. Und mir ist allzu klar, dass mein Kopf sich gerade wehrt, gedanklich das wirklich Schlimmste zu formulieren.
Hinter der nächsten Ecke könnten ein paar Leute auf uns warten, uns anhalten, aus dem Auto aussteigen lassen und mit Sack und Pack davon fahren. Im schlimmsten Fall würden sie uns bei Gegenwehr etwas antun.
Jetzt ist es raus. Ich verfolge diesen Gedanken weiter. Wo befinden sich unsere Wertsachen? Was ist wirklich wichtig? Mein Pass – den hab ich nicht dabei. Bargeld – darauf kann ich im Notfall verzichten, solange ich meine Kreditkarte habe. Mein Hausschlüssel – denn ohne diesen komme ich nicht in meine Wohnung rein.
Was passiert, wenn wir angehalten werden? – Sie werden die Türen aufreißen und uns zum Aussteigen bringen… Die Türen sollten also auf keinen Fall verriegelt sein. Verriegelte Türen können bei aggressiven Reaktionen und Adrenalin der Aggressoren zu unvorhersehbaren und unkontrollierten Reaktionen führen.
Würden die Türen aufgerissen, müssten wir versuchen, so schnell wie möglich aus der Situation herauszukommen. Das heißt, keine Gegenwehr, aussteigen, Auto nicht ausschalten, Schlüssel nicht abziehen, einfach raus, so dass sie reibungslos einsteigen und weiterfahren können.
Das einzige Problem: Mein Hund sitzt im Kofferraum. Ich müsste in der worst-case-Situation an den Kofferraum und meinen Hund raus lassen. Unmöglich.
Vierzig Minuten denke ich angestrengt über diese worst case-Situation nach. Es herrscht Stille im Auto. Sie Sonne brennt auf das Autodach. Mir steht gerade nicht wirklich der Sinn danach, meine Freundin und am allerwenigsten meine Mum in meine Gedanken einzuweihen. Sie nicht einzuweihen wäre jedoch fatal. Wenn etwas passieren würde. Denn aktuell haben wir noch die Möglichkeit, Vorkehrungen zu treffen. Später vielleicht nicht mehr. Better safe than sorry.
Ich atme tief ein, schließe für eine Zehntelsekunde die Augen, atme aus. Mädels, ich will den Teufel nicht an die Wand malen, aber ich bin völlig außerstande, die Situation einzuschätzen. Ich weiß nicht, ob wir es mit organisiertem Verbrechen oder mit Armut zu tun haben. Ich glaube nicht, dass etwas passieren wird und möchte keine Panik auslösen, aber ich würde mir niemals verzeihen, keine Vorkehrungen getroffen zu haben.
Was meinst du für Vorkehrungen, fragt mich meine Mum. Bitte, Mädels, schnappt euch eure Kreditkarte, euren Pass und euer Handy und steckt euch die Sachen in den BH. Ich halte den Wagen an. Mali, kannst du bitte Matute aus dem Kofferraum holen und sie zu dir und Chiloh auf die Rückbank setzen?
Als ich wieder anfahre, fragt sie mich, ob ich das Auto verriegeln könne. Ich verneine und berichte ihr von meinen Gedanken in Bezug auf verriegelte Autotüren, die im Falle eines Überfalls keinen Schutz bieten, sondern ein weiteres Aggressionspotenzial bieten würden.
Gemächlich, mit durchschnittlichen 10km/h, schieben wir uns den Berg hoch. Wir lassen kleine Dörfer, die aus nicht mehr als drei bis zehn Häuschen bestehen, hinter uns. Als man unser Auto ankommen sieht, rennen Kinder auf die Straße. Gringos, Gringos, rufen sie und rennen mehrere Meter dem Auto nebenher.
Ich realisiere, dass ich die Sprache, die die Menschen hier sprechen, nicht einmal in Ansätzen verstehen kann. Sie sprechen hier kein Spanisch mehr. Das ist irgendeiner von den 26 Maya-Dialekten.
Die Alarmglocken in meinem Kopf machen mich verrückt. Ich bekomme Migräne. Ich weiß, dass ich hier die einzige bin, die die Situation wirklich einschätzen kann. Und doch kann ich es nicht. Ich bin weitaus älter als meine Freundin. Und ich habe weitaus mehr Erfahrung in diesem Land als meine Mutter. Ich bin also diejenige, die hier einen kühlen Kopf bewahren, die sich neben der Straße auch voll auf die Umgebung konzentrieren, die irgendwie Verantwortung für alle hier übernehmen muss. Wenigstens haben wir Vorkehrungen getroffen.
Plötzlich lache ich lauthals los. Ich kann nicht mehr. Die Anspannung muss irgendwohin. Was ist denn los?! Ich lache wieder. Ich kann nicht mehr aufhören. Tränen schießen mir in die Augen. Ich dachte gerade, wenn uns jetzt noch ein Reifen platzt, dann können wir uns heute Nacht von einer der Mamas aus dem Dorf hier bekochen lassen. Die hat sicher ein bisschen Stroh für uns, auf dem wir schlafen können.
Witzig finden die beiden meine Vorstellung irgendwie nicht. Uns wird kein Reifen platzen, sagt meine Mutter. Ihre Stimme klang auch schon sicherer. Du brauchst eine Fahrpause. Halt an und lass mich übernehmen, sagt meine Freundin von der Rückbank. Keine Sorge, es geht noch, sage ich. Es geht gar nichts mehr, denke ich.
Zwanzig Minuten später sehe ich weder Schlaglöcher noch Felsen. Mit nicht mehr vorhandener Konzentration weiterzufahren wäre unvernünftig. Kannst du bitte doch übernehmen? Ich kann mich nicht mehr konzentrieren. Ich muss mal schnell hier raus.
Kurz vertrete ich mir die Füße. Ich schaue auf mein Handy. Nach wie vor kein Handyempfang. Wir sind bereits seit zwei Stunden unterwegs und haben immer noch nicht die Hälfte der Strecke geschafft. Umdrehen bringt nichts mehr. Dafür sind wir zu tief drin. Augen zu und durch, denke ich mir.
Und dann wird die Strecke enger und schließlich einspurig.
In Schrittgeschwindigkeit durchfahren wir das nächste Dorf. Schon längst haben wir uns mittlerweile angewöhnt, unsere Fenster hochzufahren, wenn wir die ersten Häuser sehen. Trotz verdunkelter Scheiben sehen die Menschen aber offensichtlich, wer sich darin befindet.
Gringos, gringos!
Oder sie wissen einfach, dass kein Guatemalteke diese Strecke fahren würde und die Bewohner aus den Dörfern keine Autos haben und ausschließlich mit den Micros hier durchfahren.
Und plötzlich sehe ich von meinem Rücksitz aus in der Ferne ein einsames Männlein am Straßenrand stehen. Mädels, da kommt eine weitere Absperrung.
Einerseits gut, denn das bedeutet, dass wir uns in der Nähe der Ausfahrt aus dem Gebirge befinden. Andererseits schlecht, denn auch wenn ich mittlerweile verstanden habe, dass es sich allein aufgrund der Tatsache, dass uns bei dreieinhalb Stunden Irrfahrt durch das Gebirge nichts passiert ist, nicht um organisiertes Verbrechen handelt, so muss ich nun ein weiteres Mal verhandeln.
Mali, hast du kleine Scheine in deinem Geldbeutel? Ich hab‘ nur noch Hunderter. – Weiß nicht, guck mal nach. Ich bin erfolgreich. Okay, also, mein Plan ist folgender: Ihr lasst da vorne das Fenster oben und ignoriert den. Ich fahre das Fenster einen Spalt runter. Mein Maximalbetrag sind Q30. Mehr haben wir nicht an kleinen Scheinen. Das muss irgendwie klappen.
Als wir bei dem Männlein am Straßenrand ankommen, finden wir dieselbe Situation wie vor einigen Stunden vor. Machete. Spaten. Mehrere Steinbrocken auf der Fahrbahn. Eine über die Fahrbahn gespannte Schnur.
Selbst wenn wir Gas geben würden und die Schnur zur Seite schieben würden, der ganze Unterboden am Auto wäre hinüber und wahrscheinlich auch mindestens ein Reifen.
Ich lasse das Fenster ein paar Zentimeter herunter. Ohne abzuwarten, was er will, frage ich: Wie viel willst du? – Wir bauen hier die Straße aus und wir brauchen… Ich unterbreche ihn. Ich weiß, was ihr hier macht. Ich hab‘ deinen Kumpel vor einigen Stunden kennengelernt. Wie viel willst du? Er schaut mich an.
Er fühlt sich sichtlich unwohl. Q100! Oh, denke ich bei mir, das ist ja fast ein Schnäppchen. Q100? Ich lasse eine ordentliche Portion Verzweiflung in meiner Stimme mitschwingen.
Ja, wir bauen hier die Straße aus und wir brauchen… Wieder unterbreche ich ihn. Ich weiß, was ihr hier macht… Ich packe noch mehr Verzweiflung in meine Stimme und drücke mir eine Träne aus den Augenwinkeln. Aber, aber, dein Kumpel hat uns vorhin Q200 abgenommen. Ich habe keine Q100 mehr. Ich habe noch… – ich tue so, als würde ich in meiner Tasche kramen, zeige ihm dann zwei kleine Scheine – Q20! Wenn du mir sagst, wo ich Geld holen kann, mache ich das.
Traurig schaut er mich und erzählt mir irgendetwas von Gott. Ich verstehe kein Wort, denke nur: Du sollst nicht stehlen. Du sollst nicht betrügen. Dein Gott ist mir gerade echt egal! Schaff‘ diese verdammten Steine von der Straße! Wieder murmelt er etwas, das ich nicht verstehen kann.
Völlig verzweifelt schreie ich ihn schließlich an, wedle mit den Q20-Scheinen: Ich hab‘ nicht mehr Geld als das! Es tut mir leid.
Erneut blickt er mich an. Schließlich nimmt er das Geld, nickt und räumt die Steine zur Seite. Alter, gut gespielt, Manu, sagt meine Freundin. Meine Mum hingegen hat die vergangenen zwei Stunden kein Wort mehr von sich gegeben, ist aber sichtlich erleichtert. Danke!
Ich will eine Dusche. Ich will einen Kaffee. Ich möchte etwas zu essen. Vor allem aber möchte ich hier raus. Jetzt sofort!
Epilog
Von Lanquin trennten uns zu diesem Zeitpunkt noch 1,5 Stunden. Dass wir für die letzten 10 Kilometer nach Lanquin 45 bis 60 Minuten Fahrtzeit einkalkulieren mussten, war uns bereits zu Beginn unseres Roadtrips klar. Diese Strecke gilt als eine der schlimmsten Strecken in ganz Guatemala. Lächerlich, wenn ich an die Strecke denke, die wir in den vergangenen Stunden hinter uns gebracht hatten.
Und was hat es nun mit dem Gebirge und der Situation in den Dörfern auf sich? – Unsere Unterkunft in Lanquin, der wir unsere Geschichte erzählten, schlug die Hände über dem Kopf zusammen. Sie beglückwünschte uns dafür, dass wir an nur zwei Sperren geraten und mit insgesamt Q40 Wegzoll (4,50 Euro) da raus gekommen seien.
Die Strecke nämlich, so unsere Unterkunft, sei eine beliebte Strecke für Überfälle. Auch Kinder würden hierbei immer wieder eingesetzt. Diese nämlich würden in den Dörfern Steinbrocken auf der Straße positionieren, um eine Weiterfahrt erst nach erfolgter Bezahlung zu ermöglichen.
Auch sei es immer wieder vorgekommen, dass sich die Kinder mitten auf die Straße stellen würden, um eine Weiterfahrt zu verhindern.
Die lauten Gringo-Rufe der Kinder überdies hätten weniger die Intention, die Fahrer der Fahrzeuge auf sich aufmerksam zu machen, sondern vielmehr die Dorfbewohner über ein herannahendes Fahrzeug zu informieren. Denn durch Gringos, Gringos wüsste das ganze Dorf binnen Sekunden, dass gleich ein Geldautomat durch das Dorf fahren würde…
Bist du auf der Suche nach weiteren hilfreichen Tipps für deine Reise nach Guatemala? – Dann stöbere doch einmal auf meiner Guatemala-Seite.
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Auch wenn du dich über Transportmöglichkeiten, wie Uber und Taxi, dem Chicken Bus, das Autofahren in Guatemala oder das Fahren mit der Transmetro in Guatemala Stadt informieren möchtest, bist du hier natürlich richtig! 😉
Giuseppe
März 22, 2024 @ 12:03 am
Hallo,
wir sind zu viert ebenfalls diese Strecke gefahren. Von einer Straße kann nicht die Rede sein. Auch jetzt, im März 2024 sind die Banditen/Wegelagerer aktiv. An der ersten Sperre standen zwei und forderten 500 Q.
Wir haben sie auf 100 runtergehandelt.
Nach einiger Zeit war ein weiterer, bewaffnet mit einer Machete parat. Dieser forderte auch mehrere Hundert und machte Drohgebärden mit seiner Machete.Wir haben uns davon nicht übermäßig beeindrucken lassen, haben ihm im Gegenzug auch angebrüllt und sind mit 50 Q davon gekommen. Und natürlich erfolgte kurz vor Ende des Weges eine weitere Sperrung mit drei Leuten, welche Spitzhacken im Anschlag hatten. Wir haben aber Zwischenzeitlich unser Geld versteckt und nur 25 in der Brieftasche gelassen. Diese haben wir den Gauner gezeigt und erklärt dass deren Kumpels uns bereits alles abgeknöpft haben. Uns wurde die Weiterfahrt daraufhin verweigert. Nach einiger Zeit jedoch glaubten sie uns und nahmen die 25 Q. Wir haben ja sonst für weitere potenzielle Opfer die Straße gesperrt.
Wir können nur jeden warnen diesen Weg zu wählen. Fahrt außen herum, auch wenn es länger dauert.
Ich habe Google Maps die Straße gemeldet, in der Hoffnung dass sie diese Strecke rausnehmen.
Manu
März 23, 2024 @ 7:57 am
Wie gut, dass ihr da heil durchgekommen seid! Danke für das Update!