Varanasi sehen und… überleben! – Mein persönlicher Overkill in der heiligen Stadt
Vorab-Anmerkung: Als ich diesen Artikel schreibe, bin zwei Wochen aus Indien zurück. Mein Besuch in Varanasi ist nun fast fünf Wochen her. Nach wie vor habe ich Probleme, diesen Beitrag zu verfassen. Lange Zeit habe ich darauf gewartet, dass sich eine Struktur in meinem Kopf ergibt, die es erleichtern würde, über diesen einen Tag in dieser Stadt zu schreiben. Sie ist ausgeblieben. Lange Zeit habe ich darauf gewartet, dass sich dieser Bericht über Nacht praktisch von selbst schreibt. Auch das ist ausgeblieben.
Ich werde den Beitrag nun nicht weiter vor mir herschieben, denn – wenn ich einmal in mich hineinhöre – ist es genau das, was ich eigentlich möchte: Ihn nicht schreiben!
Die Stadt Varanasi
Varanasi (abgeleitet von den Flüssen Varana und Asi) liegt im indischen Bundesstaat Uttar Pradesh. Die Stadt zählt zu den großen Städten Indiens: 1,2 Millionen Einwohner nach einer Volkszählung 2011, 1,4 Millionen Einwohnern mit Stand 2012. Die Einwohnerzahl beschränkt sich auf die Stadt. Ohne Hinzuzählung der äußeren Distrikte. Über die Jahre danach habe ich keine gesicherten Infos mehr gefunden. Du kannst also davon ausgehen, dass dort mittlerweile deutlich mehr Menschen leben als die Zahlen im Internet verraten. Unklarheit herrscht natürlich ebenfalls über die Anzahl der Menschen, die nur für einige Zeit in der Stadt bleiben.
Auch besitzt die Stadt unterschiedliche Namen, denn sie ist ebenfalls unter Kashi (die Altstadt von Varanasi), Benares („Stadt des Lichts“) oder Mahashmashana („große Leichenstätte“) bekannt.
Was die Stadt jedoch in jedem Fall mit ziemlicher Sicherheit ist: Die heiligste Stadt des Hinduismus. Und in ihr dreht sich scheinbar alles um den Tod.
Die Bedeutung der Stadt im Hinduismus: Varanasi sehen und sterben
Seit Hunderten von Jahren pilgern Gläubige in diese Stadt, wenn sie krank und schwach sind. Ihr Ziel: In Varanasi sterben. Denn dort im Ganges zu baden, dort zu sterben, dort verbrannt zu werden und schließlich dem Ganges übergeben zu werden bedeutet, dem scheinbar endlosen Kreislauf der Wiedergeburt entkommen zu können. Dem Glauben nach soll der Leichnam innerhalb von 24 Stunden nach dessen Ableben auf den Ganges geschickt werden. Nur auf diese Weise sei eine Erlösung möglich.
Wenn man bedenkt, wie riesig dieses Land ist und wie lange man – wenn man nicht gerade wie ich mal schnell das Flugzeug nimmt – benötigt, um in Indien vom einen zum anderen Ort zu kommen und für diese mitunter beschwerliche Reise ja noch ein bisschen Kraft haben sollte, kannst du dir vorstellen, wie viele Menschen sich in der Stadt zusätzlich zu den Einwohnern aufhalten. Nein, nicht aufhalten. Auf ihren Tod warten.
Das Geheimnis und der Mythos um Varanasi
Man sagt, der riesige Fluss Ganges gleiche – wenn er durch Varanasi fließt – einer völlig verdreckten und Krankheiten bringenden Kloake.
Man sagt, es sei der mitunter tödlichste Fluss aufgrund der Bakterien, Keime und anderen Erreger, die sich in ihm befinden. Und trotzdem baden die Menschen darin. Sie waschen ihre Kleidung darin. Und sie trinken daraus.
Man sagt, dass keine Stadt in Indien so dreckig, so vermüllt, so überfüllt und gleichzeitig so geheimnisvoll sei.
Man sagt, dass man bei den Unterkünften, die man sich dort als Bleibe aussucht, aufpassen müsse, dass man nicht in einem Sterbehotel landet.
Man sagt, dass an den Ghats alte, vor sich hin verrottende Kleidungsstücke lägen, die niemand entsorge.
Man sagt, dass hier Bootstouren mit Geld-zurück-Garantie angeboten werden würden, wenn man keine Leiche zu Gesicht bekäme.
Man sagt auch, dass an den Ufern des Ganges leblose Körper lägen, überall der Geruch von verbranntem Holz und verbrannter Haut in der Luft hinge, man diesen Geruch tagelang nicht mehr aus der Nase und die Bilder nie mehr aus dem Kopf bekäme.
Und, man sagt, dass ein Besuch in Varanasi einen Menschen verändern würde.
Ich sage: All das ist kein Mythos – all das ist wahr!
Varanasi sehen und… überleben
Während es in einigen Städten Indiens recht langweilig, teilweise geradezu sterbenslangweilig ist, trifft dies – zumindest was das Langeweile-Potenzial angeht – ganz sicher nicht auf Varanasi zu.
Unzählige Tempel, eine Fülle an Schreinen und eine überdurchschnittlich hohe Anzahl an anderen heiligen Orten zeichnen diese Stadt aus. Zu Gesicht bekommst du all dies nur, wenn du dich zu Fuß auf den Weg machst, denn Tuk Tuks können in den schmalen, verwinkelten Gassen der Altstadt nicht fahren.
Und weil ich Varanasi hautnah erleben möchte, mache ich mich früh am Morgen in die Straßen auf. Um voller Energie in den Morgen starten zu können und weil mir Frittiertes für die kommenden Tage doch irgendwie lieber ist, nehme ich zunächst ein paar Puris zu mir – ohne Soße.
Einige hundert Meter weiter mache ich einen kurzen Stopp, um einen Masala Chai zu trinken. Ich komme mit den teetrinkenden Menschen dort ins Gespräch. Sie geben mir ein paar Tipps für meinen heutigen Tag, werfen mit Namen von Ghats um sich, die ich mir nicht merken kann. Sie geben mir Wegbeschreibungen, die ich mir ebenfalls nicht merken kann, die mir aber bei den kleinen Gässchen hier sowieso völlig sinnlos erscheinen. Denn eines ist bereits jetzt sicher: Ich werde mich hier und heute verlaufen.
Das mir nur allzu bekannte Spiel beginnt: Ich lasse mich in den Straßen treiben, laufe hin, wo ich Geräusche und Laute höre, laufe den Sonnenstrahlen oder anderen Menschen hinterher. Ich steige Ghats hinunter, werfe einen Blick auf den Ganges, steige Ghats wieder hinauf oder laufe auf ihnen am Ufer des Ganges entlang.
Nach einiger Zeit gelange ich auf eine größere Straße. It’s time for tea! Ich steuere den nächsten Tea Stall an, bestelle ek chai kam cheenee (einen Masala Chai mit weniger Zucker). Man bittet mich, mich zu setzen. Kurze Zeit später wird der Tee gereicht.
Noch bevor ich daran genippt habe, bittet mich der Besitzer des Tea Stalls: „Come, please, sit inside. Come!“ Ich bin verwirrt, komme seiner Bitte jedoch nach. Bänke und Stühle werden gerückt. Die Dame soll einen bequemen Platz haben. Ich bin immer noch verwirrt. Ich frage den netten Herren neben mir, warum ich rein sollte. Er sagt, draußen würden gleich die Aufräumer kommen, weil die Bänke zu weit auf der Straße stünden. Der Besitzer wolle nicht, dass ich von diesen weggescheucht werde. Nett.
Wir kommen ins Gespräch. Ich berichte von meiner Indienreise. Er berichtet von seiner Familie. Von seinen Kindern. Von seinen Enkelkindern. Schließlich fragt er mich, was ich in Indien bisher nicht getan oder erlebt hätte. Schwierige Frage. Ich muss einige Zeit nachdenken. Entgegne schließlich: Ich hätte noch keine Rituale in einem Shiva-Tempel erlebt. Kurzerhand springt mein Gegenüber auf. „Come!“ Ich folge ihm schnellen Schrittes durch die kleinen Gassen der Altstadt.
Blumenkauf. Schuhe ausziehen. Rein in den Tempel. Ein paar kurze Erläuterungen. Den Erläuterungen folgen. Die Reihenfolge der Blüten. Die Art und Weise der Drapierung. Sitzen. In einer ruhigen Ecke chillen. Die anderen Gläubigen beobachten. Ich drücke ihm 100 Rupies in die Hand. Es ist das Mindeste, das ich tun kann, um mich erkenntlich zu zeigen.
Er lehnt ab. Ich bestehe darauf. Nach einem weiteren Zickzack durch die kleinen Gassen setzt er mich am Goldenen Tempel der Stadt ab, den ich ganz sicher sooo schnell alleine nicht gefunden hätte. Mein Weg geht schließlich weiter: Gasse entlang. Ghat runter. Ghat hoch. Gasse weiter.
Mittlerweile hat es 38 Grad. Die Hitze und die Luftfeuchtigkeit sind kaum zu ertragen. Mein Shirt klebt an meinem Oberkörper. Meine Hose klebt an meinen Beinen. Schweißperlen laufen mir die Stirn herunter. Ein Hoch auf den Dutt! Die Frisur sitzt. Eine eisgekühlte Coke Light hätte jetzt etwas.
Und als ich das nächste Ghat ansteuere, weil ich einen Tea Stall mit Schattenplatz ausmachen kann, fragt man mich nicht, ob ich Tee wolle, sondern stellt mir die Frage: „Did you come to see the burning?“
Das verschwitzte Shirt, die an mir klebende Hose, die Frage, ob der Dutt immer noch der Hitze standhält und der Wunsch nach einer eiskalten Coke Light: Von der einen auf die andere Sekunde völlig vergessen. Komplett nebensächlich. Ich bin wie vom Blitz getroffen. Sitze wie versteinert auf den Treppenstufen. Schaue völlig entsetzt mein Gegenüber an. Dieser zeigt nur Richtung Ganges: „Look!“
Ich atme durch.
Ich sehe Menschen. Ich sehe Holz. Ich sehe Rauch. Ich schärfe meinen Blick. Und dann sehe ich, …
… dass zwei von den vier Feuerstellen gerade in Gebrauch sind. Während an der hinteren Feuerstelle Holz verbrennt – mir wird erklärt, dass das Holz zunächst einige Zeit brennen müsse, bevor der Leichnam darauf gelegt wird – realisiere ich, dass auf der Feuerstelle davor ein in ein Leintuch eingepackter Leichnam liegt. Mit Holz bedeckt. Die Umrisse, das Leintuch in aller Deutlichkeit erkennbar. Ich beobachte, wie die Anwesenden weiteres Holz auflegen.
Mir wird schlecht. Ich habe das Bedürfnis, mich hier und jetzt zu übergeben. Meine Schläfen beginnen zu pochen. Mein Körper befindet sich in einer Schockstarre. Ich bin völlig regungslos. Die Umstehenden beachten die Szenerie kaum. Sie unterhalten sich miteinander. Sie lachen miteinander. Sie trinken Tee. Für mich ist es wie ein Autounfall: Ich empfinde es als furchtbar schlimm, als absolut grauenhaft und dennoch kann ich meine Augen nicht davon abwenden.
Und während mein Kopf zu mir sagt „Du tust das jetzt nicht. Du gehst da jetzt nicht runter und schaust dir das aus nächster Nähe an“, haben meine Beine längst die Kontrolle über meinen Körper übernommen.
Ein Windhauch weht mir den Rauch mitten ins Gesicht. Ich rieche verbranntes Holz. Ich nehme einen seltsamen Geruch wahr, der meiner Nase völlig unbekannt ist. Ich halte die Luft an. Als sich der Rauch verzieht, offenbart er einen klaren Blick auf das Eisengrab vor mir.
Ich frage mich, wie ein Mensch in seiner körperlichen Breite dort hineinpasst. Ich erinnere mich dunkel, irgendwo gelesen zu haben, dass man den Toten die Gliedmaßen abtrennt, damit sie in die Verbrennungskästen passen. Ich erinnere mich dunkel, irgendwo auch gelesen zu haben, dass früher eine Frau, deren verstorbener Mann verbrannt wurde, parallel zu seiner Verbrennung bei lebendigem Leib ebenfalls verbrannt wurde.
Gelesen. Irgendwo. Irgendwann. In einer anderen Welt…
Auf dem Weg zurück zu meiner Unterkunft laufe ich durch einen kurzen und sehr schmalen Tunnel. Er ist nicht breiter als eineinhalb Meter. Auf dem Boden liegen der Wand entlang und auf Matten gebettet Menschen. Ausgezehrte, dünne, sehr krank aussehende Menschen.
Während ich hindurch laufe, frage ich mich, wieso sie dort liegen, was sie dort machen. Der Sonne entfliehen? Frau meiner Sinne bin ich offensichtlich nicht mehr. Erst Minuten später wird mir klar, dass dies ein paar der Menschen sind, die in die Stadt gekommen sind, um dort auf ihren Tod zu warten und wahrscheinlich kein Geld für ein Bett in einem Sterbehotel aufbringen können.
Erst Stunden später bin ich in der Lage, mich von meinem Bett zu erheben und wieder vor die Tür zu gehen. Ich mache mich auf zur Ganga Aarti am Dasashwarmedh Ghat. Die Aarti dort soll die farbenprächtigste und schönste von allen in Varanasi sein. Glockenläuten. Feuer. Musik. Licht. Gesang. Choreografien. Ein Spektakel, welchem zahlreiche Menschen beiwohnen. Ein olfaktorisches Fest aufgrund der Massen an Räucherstäbchen, die hier abbrennen. Und nach diesem Abendprogramm setzt dann auch endlich wieder mein Hungergefühl ein…
Fragen, die ich mir während meiner Zeit in Varanasi stelle
Wie gehe ich mit so etwas um? Wie gehe ich überhaupt mit diesen Dingen um, die ich in Varanasi erlebt habe? Hake ich das ab unter been there, done that? Kann ich das überhaupt? Lasse ich das an mich heran? Und wenn ja, wie lange? Oder schiebe ich es beiseite, weil es mich nicht persönlich betrifft? Weil es nicht meine eigene Kultur ist? Weil es mit meiner Religion nichts zu tun hat? Weil es nicht mein eigenes Land ist? Oder liegt das Problem schließlich genau darin, dass es eben nicht mein Land ist und daher Identifikation und Verständnis nur schwierig – vielleicht sogar gar nicht – möglich sind? Gibt es eine Grenze für Toleranz? Für Akzeptanz?
Indien Überblick:
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