Amritsar Stadt: Ein Blick in die dunkle Zeit des Kolonialismus?!
Eine letzte Autofahrt und eine letzte Nacht in Delhi
Spät, sehr spät, breche ich am Vormittag in Rishikesh Richtung Delhi auf. Spät deswegen, weil ich Gurmeet gegenüber für einen späteren Check-Out plädierte, weil ich meine Zeit an diesem Ort so sehr genossen habe und noch nicht bereit bin für das Chaos, das mich auf den Straßen erwarten wird. Acht Stunden Autofahrt liegen vor uns. Unsere letzte gemeinsame Fahrt.
Ein letztes gemeinsames Mittagessen. Ein letzter gemeinsamer Masala Chai. Einmal mehr wird mir bewusst, wie schmerzhaft Abschiede auf Reisen sein können. Gurmeet fühlt meine Stimmung. Er versucht ihr entgegenzuwirken, indem er mir sagt: „You say fate. I say God. No matter what it is, if we are meant to see each other again, we will…“
Am Abend kommen wir bei Ashok und seiner Familie in der Nähe von Delhi an. Seine Frau hat sich bereits rührend um ein Abendessen gekümmert.
Lange erzähle ich Manish und Ashok von meinem zweiwöchigen Trip. Die Müdigkeit übermannt mich schließlich und die beiden schicken mich ins Bett, schließlich müsse ich um 04:30 Uhr aufstehen.
Ein letzter gemeinsamer Masala Tee bei der Familie. Ein letztes Frühstück. Und nach einer letzten Portion Prantha mache ich mich mit Ashok auf den Weg zum Flughafen.
In der Hoffnung, uns irgendwann einmal wiederzusehen, verabschieden wir uns herzlich. „Traveling means stamping our hearts.“ Ich gebe Ashok Recht. Nicht nur mein Pass wurde vor zweieinhalb Wochen gestempelt. Bei vielen wundervollen Begegnungen auch mehrfach mein Herz…
Ankunft in Amritsar
Ich lande um 9:30 Uhr am Flughafen. Da ich mit Sunny bereits vorab besprochen hatte, dass er mich abholt, gelingt auch mein Transfer vom Flughafen zu meiner Unterkunft – ich habe mir das Hotel Holy City als Bleibe für zwei Nächte ausgesucht – völlig reibungslos. Ein Erkennungsschildchen mit meinem Namen benötigen wir nicht, denn Dank WhatsApp-Profilfotos erkennen wir uns sofort. Dreißig Minuten später bin ich mitten in der Altstadt, checke ein, lege erst einmal für eine Stunde die Beine hoch.
Draußen ist es unglaublich heiß. Die Sonne knallt. Schließlich möchte ich nicht länger auf das warten, was mich da draußen erwartet und ziehe durch die kleinen Straßen Amritsars.
Die Altstadt von Amritsar
Was mir bei meinem Spaziergang durch die Altstadt sofort auffällt, ist das vergleichsweise wenig bis gar nicht vorhandene Gehupe. Die Verkehrsteilnehmer benehmen sich nicht völlig aggro wie ich das von Rajasthan mittlerweile gewohnt bin, sondern – Achtung, man höre und staune! – geben aufeinander Acht. Sie weichen einander aus. Sie beharren nicht darauf, sofort und als erstes fahren zu dürfen. Und sie lassen anderen Verkehrsteilnehmern den Vortritt.
Ich lasse meinen Blick schweifen und stelle fest, dass der Großteil der Menschen, denen ich auf der Straße begegne, Sikh sind. Wenn ich an ihnen vorbeilaufe, lächeln sie mir zu, lächeln mich an und grüßen mich. Während ich mir langsam meinen Weg Richtung des Goldenen Tempels bahne, werde ich zwar immer wieder von Tuk Tuk-Fahrern kontaktiert, aber – ich schreibe absichtlich „kontaktiert“ – sie sprechen mich nicht direkt an, sie winken mir lediglich zu und zeigen auf ihr Tuk Tuk oder ihre Rikscha. Ein dezentes Kopfschütteln und ein zaghaftes Lächeln reicht aus, um ihr Interesse auf jemand anderen zu lenken.
Ich ziehe durch die Fußgängerzone. Ich bin überrascht. Denn sie ist sauber. Man könnte hier (fast) vom Boden essen. Und wo verdammt sind die Kühe hin, die und deren Ausscheidungen in den vergangenen Wochen beim Spazierengehen immer meine größte Aufmerksamkeit erforderten und dazu führten, dass ich häufiger eher aussah, als würde ich sturzbetrunken durch die Straßen irren?!?!
An den Waren, die die einzelnen Läden verkaufen, hat sich wenig verändert.
Du findest hier nach wie vor jegliche Art von Läden, die du dir vorstellen kannst: Gewürze, Tees, Textilien, Spielwaren, Essensstände, Teestände, Handtaschen, Süßigkeiten – alles, was dein Herz begehrt.
Aber alles geht hier irgendwie gemächlicher zu. Alles ist organisierter. Und alles läuft irgendwie gesitteter ab. Niemand drängt sich auf. Niemand schreit rum. Ich gehe völlig in der Masse unter, merke jedoch natürlich trotzdem, dass ich hier auffalle wie ein bunter Hund.
Anstelle von Geschrei begegnen mir lächelnde Menschen. Anstelle eines „My friiiiiend…!“ höre ich ein „Hello, have a good time“. Anstelle von Verkaufs-Blabla führe ich minutenlange, durchaus sinnvolle Gespräche. Und selbst der unspektakulärste Eisverkäufer hält mir stolz sein Eis vor die Nase und möchte, dass ich ihn fotografiere. Why not?! 😉
Und nachdem ich ein paar Tempel besucht habe,…
Das Jallianwala Bagh Monument
…bahne mir schließlich meinen Weg zum Jallianwala Bagh Monument, dem Ort, an dem General Dyer 1919, als Indien noch eine Kolonie des Britischen Empires war, auf eine Menschenmenge gewaltloser Demonstranten schießen ließ, ohne auch nur ein einziges Zeichen einer Warnung abzugeben. Vielmehr ordnete er seinen Truppen an, direkt auf die Menschen zu schießen, die dieser Situation, da sie von Mauern umgeben waren, dem Platz nicht entkommen konnten und dem Feuer schutzlos ausgeliefert waren.
Während der wenigen Minuten, die dieses Massaker dauerte, wurden 1650 Schüsse abgefeuert, fast 400 Menschen getötet und 1100 verwundet.
Das Massaker von Amritsar
Sehr häufig habe ich die Ereignisse, die dort geschehen sind, bereits mit meinen Schülern aus meinen Englisch-Leistungskursen behandelt. Seit Jahren gehe ich dabei auf dieselbe Weise vor: Ausgabe eines Arbeitsblattes mit Arbeitsaufträgen, Abspielen des Filmausschnittes zum Massaker von Amritsar aus dem Gandhi Film, sammeln erster Eindrücke, Gedanken und Emotionen. Daran anschließend die Bearbeitung des Arbeitsblattes: Was machen die Sikh auf diesem Platz? Warum gehen die Briten auf den Platz? Wie viele Opfer gibt es? Wie viele Schüsse fallen? Wann erreichte Indien seine Unabhängigkeit? Wie rechtfertigt sich General Dyer vor dem Ausschuss? Analyse des Gesprächs vor dem Ausschuss. Wie reagiert Gandhi?
Es ist business as usual. Es gibt keine Überraschungen in dieser Stunde. Ich weiß genau, wann ich die Lautstärke bei der Vorführung des Filmausschnittes herunterdrehen muss, weil wenige Sekunden später minutenlang Schüsse fallen. Ich weiß genau, wann es vorbei ist und ich die Lautstärke wieder anpassen kann, damit mein Kurs die Gespräche versteht, die im Anschluss an das Massaker folgen.
Die Stunde ist bis zur letzten Minute exakt durchgeplant. Zwei Mal acht Minuten Filmausschnitt. Zwei bis fünf Minuten für ein spontanes Feedback. Zehn Minuten Erarbeitung. Fünf Minuten Besprechung der Aufgaben. Zwölf bis fünfzehn Minuten Analyse des Gesprächs und Gandhis Reaktion. Das Massaker von Amritsar in fünfundvierzig Minuten! Schön didaktisch reduziert!
Abgehärtet von den Ereignissen in der Theorie bin ich jedoch nicht. Abgehärtet, was den Besuch dieses Ortes angeht, schon gar nicht. Der Ort trifft mich. Bis ins Mark. Tief in meine Seele.
Auf den ersten Blick sieht der Brunnen harmlos aus. Dann denkst du an das Blut, das dort hinunter gelaufen ist und an die Menschen, die dort hinein gesprungen sind, um dem Kugelhagel zu entgehen. Und an all die Menschen, die hier für das Empire ihr Leben lassen mussten. Weil sich ein Volk als Übermacht fühlte. Weil eine Spezies Menschen eine andere unterdrückte. Und du siehst die ganzen Löcher in den Mauern. Die bullet marks. Die Überbleibsel einer traurigen, dunklen und grausamen Vergangenheit.
Wie gehen die Einheimischen mit einem solchen Ereignis um?
Man könnte erwarten, dass die Stimmung hier ähnlich trist ist wie beispielsweise beim Holocaust Memorial in Berlin. Man könnte erwarten, dass die Menschen jemandem wie mir, der man ja nun einmal nicht ansieht, ob sie Britisch oder Deutsch ist, mit einer gewissen Vorsicht oder mit Argwohn begegnen. Man könnte auch erwarten, dass dies ein Ort der Stille oder der Trauer ist. Könnte man. Das Gegenteil ist der Fall.
Kaum habe ich den Garten betreten, begegne ich einigen Frauen, die mir zunächst zuwinken, mich dann anlächeln und schließlich ohne auch nur den Hauch einer Scheu an den Tag zu legen, berühren und in den Arm nehmen.
Sie stammen aus teilweise durchaus einfachen Verhältnissen und besitzen anders als der Großteil der Jugendlichen hier kein Handy und schon gar kein Smartphone.
Dieser Umstand hält sie jedoch keineswegs davon ab, mich zu bitten, ein Selfie nach dem anderen mit ihnen zu machen, über welches sie sich schließlich so sehr freuen, als würden sie das Bild selbst in Händen halten.
Kinder werden zu mir geschoben. Meine Hände werden auf sie gelegt. Andere Hände werden auf meine Schultern gelegt und ich höre nur noch Lachen.
Ein paar Meter weiter begegnet mir eine Gruppe Jugendlicher. Ich kann sie abschütteln, indem ich den Kopf schüttle. Langsam laufe ich über den Platz, der heute als Garten angelegt ist. Überall sitzen Menschen auf dem Gras, auf den Steinbänken, machen Fotos von sich oder ihren Liebsten vor dem Memorial.
Die Stimmung ist gelöst. Der Tag wirkt wie ein lauer Frühlingstag an einem Sonntag, an dem sich die Menschen an den ersten Sonnenstrahlen des Jahres erfreuen.
Von der positiven Stimmung richtig mitreißen lassen kann ich mich nicht. Noch nicht. Mörike fällt mir ein. „Frühling lässt sein blaues Band...“ krakeelt es in meinem Kopf. Ich sehe Gandhi vor meinem inneren Auge. „…wieder flattern durch die Lüfte…“ Gandhi – fassungslos aufgrund der Ereignisse. Ich schiebe beide beiseite. Versuche es zumindest. Es gelingt nicht. Noch nicht. Ich empfinde diesen Ort als bedrückend. In jeglicher Hinsicht. Mir geht der Filmausschnitt nicht aus dem Kopf. Noch nicht. Lehrer-Krankheit? Fehlende Distanz zu meiner Arbeit? Oder bin ich einfach nur mal wieder zu emotional?
Ich steuere langsam wieder dem Ausgang zu. Und dann passiert es. Die Gruppe Jugendlicher kommt erneut auf mich zu. Geradezu zugestürmt. Sie lachen. Sie tanzen. Sie rufen mir zu. Es sind bestimmt fünfzehn bis zwanzig Kids. Ich drehe mich um. Jetzt muss ich einfach loslachen. Jetzt haben sie mich. Ich werde umkreist und höre nur noch „Selfie, Selfie!“.
Und weil ich so gar keinen Überblick mehr habe, wohin ich eigentlich schauen soll, orientiere ich mich nur noch an dem-/derjenigen, die neben mir steht, schaue entweder in das Handydisplay direkt vor meiner Nase oder auf die Person, auf die gezeigt wird, da diese für die Person neben mir die Fotos macht. Eigene Fotos währenddessen zu machen, habe ich aufgegeben…
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